Recht auf Leben?

Grundrechte sind Abwehrrechte gegen den Staat. Nicht gegen die Natur. Um es ganz schonungslos zu sagen: Der Staat darf mich nicht töten. Ein Virus schon.

Artikel 2, Absatz 2, Satz 1 des Grundgesetzes lautet:
„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“

Nicht selten bemühen Corona-Maßnahmen-Befürworter(1) dieses verfassungsmäßig garantierte Recht auf Leben, hinter dem dann vermeintlich nachrangige Grundrechte wie das Recht auf Freiheit der Person, Freizügigkeit, Versammlungsfreiheit oder Berufsfreiheit zurückzustehen hätten. Ohne Leben seien andere Rechte nun mal gegenstandslos.

Diese Position ist in zweifacher Hinsicht fragwürdig:
Erstens kann man sich fragen, ob es überhaupt ein Recht auf Leben gibt, oder genauer: ob es ein Recht auf Leben geben soll. Vorausgesetzt, man stimmt der Auffassung zu, dass Rechte nicht von Natur aus da sind, dass vielmehr in ihnen moralische und vernunftorientierte Mindestansprüche an das Zusammenleben innerhalb menschlicher Gemeinschaften proklamiert, formuliert, vereinbart, eben verrechtlicht werden.
Es geht dann also um die eher philosophische Frage: Muss es ein Recht auf Leben – als Abwehrrecht gegen den Staat – geben, um zu begründen, dass der Staat mich nicht töten darf?
Diese Frage soll – da sie ins Ungemessene führt – zum Ende dieser Betrachtung lediglich andiskutiert werden. Sie ist eigentlich die interessantere, aber im Zusammenhang mit der Corona-Debatte momentan nicht ausschlaggebend.

Zweitens nämlich (und ganz akut) ist fraglich, ob sich aus einem elementaren Abwehrrecht gegen den Staat auch a) ein praktischer Gestaltungsauftrag und b) ein konkreter Leistungsanspruch an den Staat ableiten lassen.
Diese Frage ist entscheidend hinsichtlich der generellen Zuständigkeit politischer Institutionen: Muss der Staat handeln, darf der Staat handeln auf einem Gebiet, das bislang eigentlich dem Mediziner vorbehalten war?(2) Konkret:

a) Verlangt der Text (und der Geist) der Verfassung, dass der Staat mein Recht auf Leben nicht nur dadurch wahrt, dass staatliche Akteure mich nicht töten, sondern darüber hinaus auch dadurch, dass das ganze Gemeinwesen biopolitisch so eingerichtet wird, dass mein Leben durch keinerlei physiologisch relevante Agenzien (Viren, Sonnenstrahlen, Kraftfahrzeuge, Zucker, Tabak, Tiger o.ä.) gefährdet wird?
b) Kann ich als Bürger unter Berufung auf Artikel 2 des Grundgesetzes verlangen, dass der Staat nicht nur (passiv) es unterlässt, mich zu töten, sondern auch (aktiv) dafür sorgt, dass ich vor mehr oder weniger natürlichen Lebensbedrohungen geschützt werde?

Was genau also hat der Seuchenschutz mit dem Recht auf Leben zu tun? Da man auch hierüber ausschweifend diskutieren kann, der vorliegende Beitrag sich jedoch lediglich als Anregung versteht, fasse ich mich in den nun folgenden Antworten kurz und thesenhaft:

1.
Die Grundrechte sind ihrem Charakter nach primär Abwehrrechte gegen den Staat. Nicht gegen die Natur. Das Recht auf Leben ist kein Abwehrrecht gegen einen Krankheitserreger oder gegen ein Raubtier. Um es ganz plakativ und schonungslos zu sagen: Der Staat darf mich nicht töten. Der Tiger schon. Und das Virus auch.
Das Recht auf Leben ist kein Recht auf Überleben in einer Gefahrensituation. Der Staat, der mir grundrechtliche Garantien zusichert, hat nicht versagt, wenn ich bei einem Erdbeben umkomme.

2.
Seinem Ursprung nach soll das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit den Bürger etwa vor Polizeifolter oder staatlichen Euthanasieprogrammen bewahren, es wird heute eher relevant bei Fragen der medizinischen Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug, beim Einsatz von Wasserwerfern bei Demonstrationen oder bei heiklen Terror-Dilemmata: Darf ein Flugzeug voller unschuldiger Passagiere abgeschossen werden, bevor es von Entführern in ein vollbesetztes Stadion gesteuert wird? Hier handelt der Staat gegen seine Bürger und muss sich gegebenenfalls für die Einschränkung oder gar tödliche Abwägung von Rechten rechtfertigen.
Das Recht auf Leben ist aber nicht das „Motiv“ hinter genuin staatlichen Aufgaben, etwa des Grenzschutzes, der Abwehr kriegerischer Angriffe, der Sicherung der Lebensgrundlagen oder der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Der Staat, der sich selbst erhält, tut dies nicht, weil die Grundrechte seiner Bürger ihn dazu verpflichten würden.

3.
Ein Mensch, der seinen Mitbürger als lebensbedrohlichen Virusträger wahrnimmt, kann diesem nicht das Grundgesetz um die Ohren hauen und ihn wegen Verletzung von Artikel 2 nach Karlsruhe zerren.
Das Recht auf Leben beinhaltet zwar nach allgemeiner Auffassung eine Verpflichtung des Staates, mein Leben zu schützen, auch vor Eingriffen meiner Mitbürger. Er schützt es aber nicht, indem er die Bürger zur Beachtung der Grundrechte auffordert und zu gegenseitiger Kontrolle aufstachelt. Er schützt es, indem er beispielsweise zur Befriedung des Gemeinwesens von seinem Gewaltmonopol Gebrauch macht, oder indem er durch spezielle Gesetze regelt, wie die Bevölkerung etwa im Falle von Seuchen effektiv (und unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit) zu schützen ist.
Die Tatsache, dass es ein Infektionsschutzgesetz gibt, ist äußerst begrüßenswert. Noch begrüßenswerter wäre, wenn es mit Sinn und Verstand gemacht wäre. Allerdings leitet sich auch ein gut gemachtes Infektionsschutzgesetz nicht aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit her. Staatliche Interventionen gegen gemeingefährliche Krankheiten kennt man seit der großen Pest von 1347. Das Reichsseuchengesetz von 1900 als Vorläufer des IfSG brauchte zur Begründung kein Recht auf Leben. Es ging um das „Volkswohl“, um die „große Zahl werthvoller Arbeitskräfte“, und um die „Verluste, welche das Erwerbsleben durch die Störungen von Handel und Verkehr in Seuchenzeiten erleidet.“(3)
Nicht sonderlich nett, aber immerhin weniger heuchlerisch als der gegenwärtig regierende Pseudohumanismus.

4.
Nebenbei: Nicht einmal das Verbot und die Strafbarkeit von Mord leiten sich aus dem Grundrecht auf Leben her. Das Strafgesetzbuch ist älter als der Grundrechtekatalog. Und das menschliche Wissen und das Gespür dafür, dass die Tötung unschuldigen Lebens etwas zutiefst Falsches, zutiefst Frevelhaftes ist, ist noch älter als jedes Strafgesetzbuch. Eine rückwirkende Ableitung uralter Werte und Normen aus menschheitsgeschichtlich allerneuesten rechtlichen Konventionen ist irreführend und unnötig.

5.
Ein falsch verstandenes Recht auf Leben, das über ein Abwehrrecht gegenüber dem Staat und eine biopolitische „Grundsicherung“ hinausginge, stünde in der Gefahr, zu einem juristischen Totschlagargument auszuarten: Es wäre letztlich ein Recht auf Beschütztwerden vor allen Unbilden des Universums.
Mein Leben ist jeden Tag gefährdet, durch Mitmenschen, durch natürliche oder technische Lebensweltfaktoren. Ich selbst gefährde meine Mitmenschen jeden Tag. Etliches, was ich tue, gefährdet irgendjemandes Leben. Ich betreibe zig elektrische Geräte, in denen jederzeit ein Kurzschluss zu einem Hausbrand führen kann. Ich schreibe Texte, die bei zarten Gemütern zu Herzrhythmusstörungen führen können. Ich setze mich hinters Steuer meines Autos und werde zur Lebensgefahr für hunderte von Fußgängern, an denen meine Fahrt entlangführt. Ich atme, ich spreche, ich berühre Oberflächen und verbreite dadurch potenziell krankmachende Keime aller Art.
Der Staat nimmt all das hin, er nimmt es hin, weil das Leben selbst sonst zum Erliegen käme. Pardon, falsches Tempus: Er nahm es hin, bis zum Paradigmenwechsel des Jahres 2020.

6.
Die Grundhaltung des Staates gegenüber dem Bürger sei Zurückhaltung. Er ist vornehmlich gehalten, alles Mögliche nicht zu tun. Soll er aber auch aktiv etwas tun? Ja, soll er. Hier und da legt das Grundgesetz einen Gestaltungsauftrag nahe. Das Sozialstaatsprinzip (Art 20 GG) beispielsweise beinhaltet eine implizite Anweisung, soziale Verhältnisse herzustellen und zu sichern. Mit der Berufung auf die Würde (Art 1 GG) mag sich ein Leistungsanspruch eines Grundrechtsträgers auf materielle Unterstützung in Notlagen glaubhaft machen lassen. Aber ein „Sozialstaatsprinzip“ ist eben kein „Gesundheitsstaatsprinzip“.
Das Sozialstaatsprinzip leitet sich her aus der Formulierung: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Damit ist ein Anspruch an den Wesenskern des Staates gestellt. Das Sozialstaatsprinzip mag wohl die bedarfsgerechte Einrichtung eines leistungsfähigen Gesundheitssystems implizieren, aber eine Formulierung wie „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein hygienischer und gesundheitsbewusster Bundesstaat“ steht nirgendwo geschrieben. Ich persönlich hätte gar nichts dagegen, aber die Eltern des GG hielten das offenbar nicht für eine verschriftlichungswürdige Idee.

7.
Man widerspricht als Laie nur ungern einem Bundesverfassungsgerichtspräsidenten a. D., aber ich muss es trotzdem tun. Hans-Jürgen Papier(4) sagte im April 2020 in einem Interview: „Der Staat ist aufgrund des Grundrechts auf Schutz des Lebens und der Gesundheit nach Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes verpflichtet, Leben und Gesundheit der Menschen zu achten und zu schützen.“
Also, in meinem Grundgesetz steht nichts von einem „Grundrecht auf Schutz des Lebens und der Gesundheit“. Bei mir steht, wie eingangs schon zitiert: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“
„Schutz des Lebens“ ist etwas anderes als „Leben“. Und „Gesundheit“ ist etwas anderes als „körperliche Unversehrtheit“. Dass der Staat die Gesundheit der Menschen zu schützen habe, ist – mit Verlaub – eine Hinzudichtung. Das Wort kommt im GG nirgends vor.(5)

8.
„Aus diesem Abwehrrecht“, so Papier, „folgert das Bundesverfassungsgericht eigentlich schon immer auch eine Schutzpflicht des Gesetzgebers oder allgemein des Staates, sich bei Gesundheits- oder Lebensbedrohungen durch Dritte oder durch solche Ereignisse wie Epidemien, große Unfälle oder Naturkatastrophen schützend vor die bedrohten Personen und ihre Rechtsgüter zu stellen. Aus Freiheitsrechten folgen auch Schutzpflichten des Staates.“
Das halte ich zwar – wie erwähnt – für eine logisch überhaupt nicht zwingende Schlussfolgerung, auch kann ich nicht erkennen, wie der Staat mich etwa (außer durch allgemeinste Vorkehrungen wie Autobahn-Leitplanken oder Bauvorschriften) vor Unfällen und Katastrophen schützen würde – aber selbst wenn man all das so gelten ließe, wäre immer noch die entscheidende Frage, wie der Staat denn meine Gesundheit und mein Leben im konkreten Fall zu schützen hätte. Schützt er mich vor den Gefahren einer Epidemie dadurch, dass er mich einsperrt oder dadurch, dass er mich zwangsimpft oder dadurch, dass er mir einen gesunden, immunkraftstärkenden Lebensstil vorschreibt oder dadurch, dass er mir aufklärende Ratschläge und Appelle an die Eigenverantwortung zukommen lässt?
Selbst wenn man zustimmte, dass der Staat Leben und Gesundheit der Bürger aktiv – oder (neudeutsch) sogar proaktiv – schützen muss, wäre er nach keiner Logik dazu berechtigt (und erst recht nicht verpflichtet), Kontaktverbote, Maskenpflichten, Berufsverbote, Testpflichten, Ausgangsverbote und dergleichen zu verhängen.

9.
Möglicherweise stellen sich jene, die mit dem Recht auf Leben für die Corona-Maßnahmen argumentieren, den Sachverhalt als ein politisches Unterlassungsdelikt vor: Der Staat hätte in dieser Sicht eine Art Garantenpflicht in einer Gefahrengemeinschaft. Er dürfte, wenn er das Recht auf Leben garantiere, die Menschen nicht sterben lassen, sonst machte er sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig. Mir scheint – abgesehen einmal davon, dass der Anspruch schon maßlos abwegig ist –, dass hier eine Ungenauigkeit im Verständnis, vielleicht auch nur im Sprachgefühl vorliegt: Der Staat garantiert „das Recht auf Leben“. Er garantiert nicht „das Leben“.

10.
Wenn der Staat, sagen wir präziser: die Bundesregierung und die Landesregierungen sich der Unterlassung schuldig gemacht haben, dann in viererlei Hinsicht:

1. Man hat es unterlassen, sich ausgewogen und umfassend beraten zu lassen und hat dadurch die eigene Urteilskraft unnötig kleingehalten. (Es ist schwer zu sagen, ob man sich wissentlich und willentlich so einseitig hat beraten lassen … ich habe manchmal den Eindruck, die handelnden Politiker wissen gar nicht, dass es außer Drosten, Priesemann und Co. noch andere Experten gibt, die man vielleicht mal um Rat fragen könnte.)

2. Man hat es unterlassen, kontinuierliche repräsentative Studien zu veranlassen und hat dadurch auf elementares Wissen als unabdingbare Grundlage für weitreichende Entscheidungen einfach verzichtet.

3. Man hat es unterlassen, die Kapazitäten des Gesundheitssystems durch bessere Arbeitsbedingungen und deutlich bessere Bezahlung des Personals, durch intensive und beschleunigte Weiterbildungen, durch Anwerbung von Hilfskräften und technische Aufstockungen zu optimieren.

4. Man hat es unterlassen, dem eigenen Handeln Möglichkeiten zur fortwährenden Selbstkorrektur zu eröffnen. Viele, sehr viele Politiker haben sich als durch und durch unfähig erwiesen, unter Bedingungen erhöhter Unsicherheit krisenadäquat zu agieren. Sie sind damit disqualifiziert und dürfen in unserem Gemeinwesen nie wieder in verantwortungsvolle Positionen gelangen.

Diese Leute versuchen, ihre evidente Unfähigkeit mit salbungsvollen Worten zu kaschieren. Das „Recht auf Leben“ wird als Monstranz missbraucht, um solch beispielloses Versagen feierlich zu überstrahlen. Als Ersatz für Good Governance spendet der Staat goldene Glaubenssätze und Weihrauch.

Fazit: Meines Erachtens ist Art. 2 Abs. 2 S. 1 des Grundgesetzes für die Debatte um die Sinnhaftigkeit von Corona-Maßnahmen ziemlich irrelevant. Ich bin allerdings lediglich experimentierender Essayist, kein Jurist. Ich argumentiere nur aus der Perspektive des kritischen Menschenverstands. Wenn Fachleute sich durch meine obigen Anmerkungen zu fundierteren Überlegungen angeregt sähen, wäre der Zweck erfüllt.(6)

 

Zur weiteren Meditation: Eine Kultur der Ehrfurcht vor dem Leben

Wie eingangs angedeutet, kann man lange darüber philosophieren, ob das Recht auf Leben überhaupt ein Grundrecht sein soll. Hier nur ganz kurz: Mir scheint, die explizite Gewährleistung grundrechtlicher Unantastbarkeiten wie Würde und Leben beruhigt und überdeckt lediglich das Kernproblem der uralten Naturrechtsfrage: die Letztbegründung der Verbindlichkeit des Rechts.
Selbst wenn man das Recht auf Leben weiter fasst als es eigentlich gedacht ist, selbst wenn es nicht nur ein aus Diktaturerfahrungen gewonnenes maximalprophylaktisches Abwehrrecht sein soll, sondern ein Bekenntnis zum Menschen, ein Glaubensdogma, eine feierliche Inschrift auf ewiger Gesetzestafel, wäre es doch nach Maßgabe echter Humanität ein rechtes Armutszeugnis, jemandes Leben nur deshalb zu achten, weil der ein Recht darauf hat.

Das Leben ist etwas allem Recht Vorgelagertes. „Recht auf Leben“ ist im Grunde so überflüssig wie „Recht auf Atmen“, „Recht auf Herzschlag“ oder „Recht auf Sonnensystem“. Wenn man ein Recht auf Leben gegen andere (reale) Rechte abwöge, würde zwangsläufig jedes konkurrierende Recht entwertet und damit beliebig einschränkbar.
Dass das Leben schützenswert und achtenswert ist, muss eigentlich nicht durch ein Recht juristisch formuliert werden, es ist die banalste Grundbedingung aller menschlichen Belange, über die sich reden lässt. – Die Schiller’sche Einsicht, dass das Leben „der Güter höchstes nicht“ ist, entwertet das individuelle Leben keineswegs. Wer sein Leben opfert, verletzt aber keine Rechte. Das Leben ist nicht der Güter höchstes, sondern der Güter grundlegendstes und fundamentalstes.

Wenn mich jemand tötet, dann hat er nicht mein Recht verletzt. Was er getan hat, spielt auf einer ganz anderen Ebene. Er hat etwas vor allem Recht Stehendes ausgelöscht, etwas Heiliges, Unantastbares, Ehrfurchtgebietendes. Das Leben ist juristischerseits nur notdürftig zu fassen: strafrechtlich wohl, aber nicht grundrechtlich. Und das Strafrecht ist letztlich auch nur Ausdruck der Verzweiflung, der Hilflosigkeit. Der Staat handelt, nachdem das Unausdenkliche passiert ist. Und selbstredend ist die Strafe, die den Mörder ereilt, nur sehr äußerlich – das heißt: zivilisatorisch – ein Akt der Generalprävention, der Abschreckung, oder der Besserung und Resozialisierung. Im Kern geht es wie zu allen Zeiten um Vergeltung, um Ungeschehenmachen, um magische Wiederherstellung einer intakten Weltordnung.

Wir kommen hier – wie so oft, wenn man die Dinge eine halbe Drehung weiterdenkt – an einen Punkt, wo uns bewusst wird, dass wir in einer Zivilisation leben: einer sozialen Lebensform, die ihre Handlungsnormen nie anders als ethisch und legislativ codieren kann. Ob der Mensch so handeln soll oder so nicht handeln darf, wird in den Kategorien von gut und böse, richtig und falsch, nützlich und schädlich, legitim und rechtswidrig entschieden.

Ein Kulturvolk dagegen würde in ästhetischen Kategorien denken und urteilen: schön oder hässlich, maßvoll oder maßlos, stimmig oder widersprüchlich, proportioniert oder grotesk, lebensfreundlich oder zerstörerisch. Ein Kulturmensch bräuchte keine rechtliche Begründung dafür, dass man einen Menschen nicht töten darf. Er würde es einfach deshalb nicht tun, nicht befürworten, nicht zulassen: weil es hässlich ist. Weil es die Welt verunstaltet. Weil es sein Lebenswerk: seinen Charakter besudeln würde. Weil es eine Beleidigung für die Prinzipien der Intaktheit, der Ganzheit, der Harmonie des Lebendigen wäre.

Ehrfurcht vor dem Leben – diese Formel Albert Schweitzers benennt in der neuzeitlichen Philosophie wahrscheinlich am trefflichsten jene Geisteshaltung, jene Grundgestimmtheit, die den Kulturmenschen auszeichnet. Erich Fromms Biophilie-Konzept besagt ungefähr dasselbe.

Nach esoterisch-utopischem Geschwurbel klingt so etwas allenfalls in den Ohren dessen, der kein Gespür mehr hat für den kategorialen Unterschied zwischen Kultur und Zivilisation, der keine Vorstellungskraft mehr in sich aufbringt für einen Weltentwurf, der auf echte und freie Menschen rechnet, die zur Schönheit als umfassendstem Lebensprinzip fähig wären.
Wer sich mit der Zivilisation abfindet, einem System vertraglich gezähmter Primaten, bleibt unter den Möglichkeiten des Menschen. Wer ein „Recht auf Leben“ braucht, mit dem ist vielleicht so gerade eben ein Staat zu machen, aber keine Kultur. Er gibt sich mit einer Lebensform zufrieden, die historisch gesehen höchstens Übergangscharakter hat. Wahrscheinlich aber eher Untergangscharakter.

 

(1) Jüngst beispielswiese der Fraktionsvorsitzende der CDU Ralph Brinkhaus. Mit höchster Emphase begründete er am 21. April 2021 im Reichstag das Regierungshandeln wie folgt: „Ich denke an die Menschen, die krank geworden sind, und ich denke an die Menschen, die sterben. […] Wir diskutieren hier sehr viel übers Grundgesetz, das ist auch richtig so […], aber dieses Grundgesetz hat auch den Artikel 2 Absatz 2, da steht drin: Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Und es ist unsere Aufgabe, es ist unsere Aufgabe als Abgeordnete des höchsten Verfassungsorgans, dieses Leben zu schützen, Leben und Gesundheit zu schützen, und das ist mein Anspruch an Politik, warum ich in die Politik gegangen bin […].“

(Das war zweifellos seit dem Bekenntnis von Heiko Maas, er sei wegen Auschwitz in die Politik gegangen, die bislang nobelste Motivation republikanischen Gestaltungswillens.)
https://www.youtube.com/watch?v=lTVGyHAEwAI

(2) Es macht ja schon einen gewissen Unterschied, ob der Arzt sagt: „Bleiben Sie mal ne Woche zu Hause“ und mich krankschreibt, oder ob der Staat sagt: „Bleiben Sie mal n Jahr zu Hause“ und mir meine Freiheitsrechte entzieht.

(3) Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten, 24. März 1900. Verhandlungen des Reichstags, Band 177, 1898/1900, Berlin 1900
https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k10_bsb00002788_00052.html

Dass je eine politische Situation eintreten könnte, die mich veranlassen würde, in frakturschriftlichen Seuchengesetz-Entwürfen herumzublättern, hätte ich mir echt niemals träumen lassen. Einiges muss hier sehr sehr falsch laufen, dass es so weit mit mir kommen konnte. – Interessant immerhin, beim Blättern so was hier zu finden: „Aus letztbezeichneten Rücksichten erscheint eine einheitliche Regelung der Abwehr und Schutzmaßregeln auf seuchenpolizeilichem Gebiet erwünscht, um zu weit gehenden, Handel und Verkehr unnöthig erschwerenden Anordnungen, wie sie erfahrungsgemäß namentlich von unteren Lokalbehörden unter dem Drucke übertriebener Furcht beim Ausbruch epidemischer Krankheiten häufig getroffen werden, vorzubeugen.“
(Hervorhebung von mir, MJL)

Über die Geschichte der Seuchenschutzpolitik (die natürlich immer auch Wehrkraftsicherungspolitik und Fürstenreichtumserhaltungspolitik war) berichtet höchst aufschlussreich: Bärbel-Jutta Hess, 2009: Seuchengesetzgebung in den Deutschen Staaten und im Kaiserreich vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Reichsseuchengesetz 1900
https://d-nb.info/1000576949/34

(4) Das Recht auf Freiheiten, Interview mit Hans-Jürgen Papier, April 2020, Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit Nr. 3/2020, S 169-174

(5) Man könnte wohl einwenden, dass doch nicht jedes Wort explizit im GG stehen muss, dass der „Geist der Verfassung“ auch gar nicht bis ins Letzte ausformuliert sein kann. Aber wenn Herr Papier von einem „Grundrecht auf Schutz des Lebens und der Gesundheit“ spricht, dann sehe ich hier doch eine semantische Fragwürdigkeit ersten Ranges.
Ich bin aus Literaturwissenschaft und Psychoanalyse gewohnt, dass sich mit exegetischer Kreativität alles mögliche herbeiinterpretieren lässt, aber in der rechtlichen Sphäre erwarte ich doch irgendwie mehr „Akkuratesse“. Wenn die Auslegung von Gesetzestexten nicht ins Beliebige abgleiten soll, müssen wir dann nicht – wenigstens in fundamentalen Fragen – auf „der Schrift“ bestehen? Die Worte, die „da stehen“, sind ja schon auslegungsbedürftig genug, aber nun auch noch welche hinzu nehmen, die nicht „da stehen“? Und „Gesundheit“ (etwas ganz anderes als „Unversehrtheit“) steht nun mal nirgendwo geschrieben.
Wahrscheinlich unterschätze ich in meiner Sola-Scriptura-Naivität, wie sehr auch die juristische Sphäre aus sich wechselseitig stützenden Interpretationen und langjährigen Übereinkünften gebaut ist, aber vielleicht ist es ja für Fachjuristen interessant zu erfahren, wie ein nicht an irgendeine Auslegungstradition gewöhnter externer Beobachter solche „Freihändigkeiten“ wahrnimmt.

(6) Zu meiner großen Überraschung und Freude kam der von mir hochgeschätzte Dietrich Murswiek (emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg im Breisgau) offenbar auch ohne meine Anregungen bereits zu ähnlichen (und natürlich viel qualifizierteren und substanzielleren) Einschätzungen: Schutz – Freiheit – Covid. Zum Verhältnis von Schutzpflicht und Abwehrrechten in der Pandemie. (Preprint, online hier zu lesen: http://dietrich-murswiek.de/files/Murswiek-Schutz—Freiheit—Covid-Preprint.pdf). Pflichtlektüre!

 

 

Wenn Ihnen dieser Text gefällt oder sonstwie lesenswert und diskussionswürdig erscheint, können Sie ihn gern online teilen und verbreiten. Wenn Sie möchten, dass dieser Blog als kostenloses und werbefreies Angebot weiter existiert, dann empfehlen Sie die Seite weiter. Und gönnen Sie sich hin und wieder ein Buch aus dem Hause Flügel und Pranke.

 

© Marcus J. Ludwig 2021.
Alle Rechte vorbehalten.