Geh feiern – wir haben noch Betten frei

Kurze Randbemerkung aus der Rubrik „Was man hätte sagen können, wenn man dabei gewesen wäre, vorausgesetzt man wäre schlagfertig und eloquent genug, einen Gedankengang in drei Minuten druckreif in gesprochener Sprache darzubieten, für dessen schriftliche Abfassung man realistisch gesehen drei Tage benötigt“.

In der derzeit besten Talkshow im deutschsprachigen Raum (die allerdings mit einem ziemlich suboptimalen Namen zu kämpfen hat und inmitten einer reichlich befremdlichen Kulisse aus Wasserflugzeugen, Grünpflanzen und Red-Bull-Werbung stattfindet – was nur selten einen wirklich „reizvoll“ zu nennenden Kontrast zu den diskutierten Themen erzeugt –, die dafür aber einen exzellenten Moderator am Start hat, der nicht nur manierlich und mäeutisch zu moderieren weiß, sondern dies – trotz seines Namens – auch noch in einem Tonfall und Timbre tut, das dem Zuhörer die Behaglichkeit eines Salzburger Kaffeehauses inklusive eines samtigen Stückchens Sachertorte nebst einem Tässchen cremiger Melange einzuflößen geeignet ist), in jenem „Talk-im-Hangar-7“* also wies eine Gesundheitsökonomin namens Maria Magdalena Hofmarcher-Holzhacker – wie schon manch einer vor ihr – darauf hin, dass doch ursprünglich mal die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems, mithin also die Auslastung der Krankenhäuser, das Kriterium sein sollte, anhand dessen über seuchenpolitische Maßnahmen zu entscheiden sei. Dass also Grundrechtseinschränkungen einer echten Notlage bedürfen, nicht irgendwelcher willkürlich und relationslos erhobener Zahlen, aufgrund derer irgendwelche Modellrechnungen zu irgendwelchen Prognosen und Szenarien kommen, die eventuell eintreten könnten.

Der Virologe Alexander Kekulé entgegnete, dass die Krankenhäuser und Intensivstationen ja gewissermaßen die letzte Linie der Verteidigung seien, und dass man doch viel früher ansetzen müsste, damit die Leute gar nicht erst krank werden und stationärer Behandlung bedürften, und brachte die gesundheitsökonomische Logik der Mitdiskutantin dann lachend auf den Punkt:

„Wenn Sie sagen: Du kannst dich da anstecken lassen, es gibt noch ein Bett für dich … – das wär mir nicht recht.“**

Und dies war nun die Stelle, an der man die Debatte auf den entscheidenden Punkt hätte konzentrieren können, auf jenen blinden Fleck, um den alle Gespräche der letzten Monate herumgeistern, ohne ihn mal entschlossen und schonungslos in den Blick zu nehmen. Leider aber war niemand anwesend, der entschlossen genug gewesen wäre, um dem Virologen (der in der Sendung übrigens auch manche durchaus zustimmungspflichtigen Sachen sagte) ins Wort zu fallen und maximal entschiedene Klarheit einzufordern.

Nur einer brachte die Geistesgegenwart auf, nur einer sagte, was gesagt werden musste – der allerdings war hunderte Kilometer entfernt vom Geschehen und wohnte der Unterhaltung auch noch mit mehrtägiger Verspätung bei. Dennoch verdienen seine Worte hier exakt und vollständig wiedergegeben zu werden, was glücklicherweise möglich ist, da dieser große Geistesgegenwärtige ziemlich identisch mit dem bescheidenen Blogger ist, der die vorliegenden Buchstaben gerade zu Papier bzw. zu Bildschirm bringt. Hier ist, was er sagte:

„Herr Professor Kekulé – wie schön, dass Sie den Kern des Problems einmal so offen benennen! Sie sagen, es wäre Ihnen nicht recht, wenn man den Menschen die Botschaft vermittelte, sie könnten sich ruhig anstecken lassen, solang es genug freie Betten für sie gebe. D‘accord, ich würde auch nicht unbedingt sagen, dass mir das in dieser Pauschalität recht wäre. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass es bisher, also bis zum Corona-Jahr 2020, überhaupt keine Rolle spielte, was uns beiden recht war. Dem Staat war es recht. Es war einfach die offizielle, wenn auch unausgesprochene Maxime politischen Handelns, dass man sich mit irgendwas anstecken lassen darf, solange das Gesundheitssystem das verkraften kann. Niemals hätte man Ihnen verwehren können, sich mit Menschen zu treffen, sie zu umarmen und zu küssen, selbst wenn sie erkennbar krank gewesen wären. Es war zwar nie ratsam, so etwas zu tun, und Ihr Hausarzt hätte wohl Grund gehabt, zu schimpfen, wie man denn bitte so blöd sein könne, einer Kneipenbekanntschaft die Zunge in den Rachen zu stecken, die zu jedem Glas Wein und jeder Flasche Bier eine ganze Packung Taschentücher verbraucht.

Man durfte aber so blöd sein, weil diese Blödheit grundgesetzlich verbrieft war. Man durfte riskant leben. Man durfte sich gefährden, man durfte – jetzt gut zuhören! – man durfte sogar andere gefährden. Es lag im Ermessen und im Verantwortungsbereich jedes Einzelnen, wie distanziert er sein Leben einrichten wollte, um mit den Risiken dieses Lebens umzugehen. Es war nicht Sache des Staates. Kein Polizist, kein Ministerpräsident, keine Kanzlerin konnte Ihnen verbieten, mit einer schniefenden, hustenden, fiebernden Tussi größere Portionen von Aerosolen auszutauschen oder gar Mund-zu-Mund-Kontakt aufzunehmen, wenn Ihnen der Sinn danach stand.
Die Maxime, die offizielle Maxime des Staates, die wohl auch einigermaßen dem gesunden Menschenverstand entsprach, war genau die: „Lass dich ruhig anstecken, es gibt da noch ein Bett für dich …“

Man hat es nie so explizit ausgesprochen, natürlich nicht, aber gerade indem man es nicht aussprach, ja, indem man nicht einmal darüber nachdachte, billigte man es: Geh feiern, geh in die Disco – wir haben ja noch ein Bett frei. Fahr Motorrad – wir haben ja noch ein Bett frei. Geh Skifahren, setz dich ins Flugzeug, hol dir Krankenhauskeime, leb dein stressiges Leben, friss dein fettiges Fressen, zieh dir all die Schnapsflaschen rein, die überall frei verkäuflich sind, die Millionen von Menschen krank und unglücklich machen, die Familien zerstören und das Gesundheitssystem Milliarden kosten, sauf dich so kaputt, wie du willst – wir haben ja noch ein Bett frei.

Es bestehen Lebensrisiken, die wir – als Staat – kaum beseitigen können und die wir – als Staat – nicht beseitigen wollen, weil sie Folgen menschlicher Freiheit sind. Wir finden es nicht gut, dass du leichtsinnig lebst, dass du dem Alkoholismus verfällst oder dich unter Ausschaltung deines Verstandes den Gefahren viraler Ansteckung aussetzt. Aber es ist dein Leben.
Und wenn es dich bös erwischt, werden wir dich behandeln und versuchen, dich zu retten. Wir haben vorgesorgt, wir haben ein leistungsfähiges Gesundheitssystem aufgebaut.
Und auch, wenn viele es gern anders hätten: Deine Freiheit endet nicht dort, wo die Sicherheit der anderen tangiert wird, dein grundgesetzlich garantierter Leichtsinn endet nicht dort, wo du andere gefährdest. Bislang jedenfalls war es immer so. Wir haben dich immer schon Sachen machen lassen, von denen wir mit Sicherheit wussten, dass sie Menschen leiden lassen und sterben lassen würden. Wir haben unzählige Risiken und Alltagsgefahren zugelassen, weil wir wussten, dass unser Leben, so wie es nun mal ist – man mag bedauern, dass es nun mal so ist –, sonst nicht lebbar wäre.

Die Obergrenze lebbarer Risiken bemaß sich nach der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems. Wären jeden Tag 20.000 Menschen infolge von Autounfällen auf den Intensivstationen gelandet, hätten wir wohl das Risiko des Autofahrens als zu hoch eingestuft und entsprechende Maßnahmen getroffen.
Hätten wir jedes Jahr so viele Tote und Kranke durch saisonale Atemwegserkrankungen gehabt wie in diesem Corona-Jahr, und hätten wir jedes Jahr eine solche Auslastung des Gesundheitssystems gehabt wie in diesem Corona-Jahr, dann hätten wir wohl immer schon diese Lockdown-Maßnahmen getroffen.

Sie lachen, Herr Kekulé, weil Sie wissen, worauf das hier hinausläuft. Sie wissen, dass es sich eben genau so verhält, ganz ohne Konjunktiv: Es gab in vielen zurückliegenden Jahren sehr viele Tote und Kranke durch saisonale Atemwegserkrankungen, mehr als in diesem Jahr, und wir haben in vielen Jahren eine höhere Auslastung des Gesundheitssystems gehabt als in diesem Corona-Jahr, und wir haben keine Lockdown-Maßnahmen getroffen.

Wir haben einfach weitergelebt. Wir haben die Menschen frei und riskant leben lassen, und wir haben geschwiegen dazu.
Man muss dieses gedankenlose, bedenkenlose Schweigen letztlich so interpretieren, dass wir sogar die Ansteckung von Risikogruppen gebilligt haben. Wir, wir als Staat, der sich an der richtigen Stelle zurückzuhalten wusste, haben dem 21-Jährigen, der Tags zuvor auf einer Party war, durch unser Nicht-Eingreifen zu verstehen gegeben: Geh zu deiner Oma, nimm sie in den Arm, sei ein liebevoller Enkel. Wir alle wissen schließlich, dass Vereinsamung letztlich sicherer zum Tode führt als jedes Virus. Ja, es kann sein, dass du ihr diesen und jenen Erreger ins Haus schleppst, aber solange es nicht die Pest oder etwas Vergleichbares ist, werden wir die Freiheit und das Recht der Familie auf Befriedigung natürlichster Zuneigungsbedürfnisse höher achten als mathematische Modellrechnungen obskurer Wissenschaftler*innen.

Geschätzter Herr Professor, ich fasse zusammen: Wir haben bis jetzt nach genau dieser von Ihnen belächelten Devise gelebt: „Du kannst dich anstecken lassen, es gibt noch ein Bett für dich. Du kannst feiern gehen, du kannst leben gehen, es gibt noch ein Bett für dich.“

Und ich stelle mal wieder die Frage: Was hat sich 2020 geändert?
Ich vermute, wir sind erstens zu Recht auf ein paar Dinge aufmerksam geworden, die tatsächlich schon immer schiefgelaufen sind und die schon lange hätten geändert werden müssen: Hygienestandards in Altersheimen, Mangel an Pflegepersonal, Hygiene in Krankenhäusern und Arztpraxen, Hygiene am Arbeitsplatz.
Es handelt sich gewiss um eine lange überfällige Verbesserung, wenn wir getrennte Wartezimmer einführen für Patienten, die einen verstauchten Knöchel haben, und solche, die offensichtlich Symptome einer ansteckenden Krankheit tragen. Es ist bestimmt an der Zeit, dass Ärzte in Krankenhäusern aufhören, den Patienten zur Begrüßung die Hand zu geben, dass Reinigungskräfte in Krankenhäusern sorgfältig und unter menschenwürdigen Bedingungen arbeiten können, dass in Klassenzimmern und in überhaupt allen Räumlichkeiten, wo sich viele Menschen über längere Zeit zusammen aufhalten, optimale Lüftungssysteme eingebaut werden. Und es ist dringender denn je geboten, Menschen vom ziellosen Studieren abzuhalten und stattdessen für den Pflegeberuf zu gewinnen, am besten dadurch, dass man sie verdammt nochmal richtig gut bezahlt.
Das ist das eine.

Zweitens aber – und das ist der nicht mehr ganz so konsensuale und rationale Aspekt des Problems – zweitens ist es wohl so, dass wir empfindlicher, achtsamer, weicher geworden sind, ängstlicher und hysterischer. Intoleranter gegenüber Krankheit und Tod. Wir ertragen keine Toten mehr, die „nur“ das durchschnittliche statistische Sterbealter von 81 Jahren erreicht haben. Wir ertragen keine Krankheiten mehr, die Menschen in genau dem Alter zu Tode bringen, in dem sie statistisch gesehen, also erwartbarerweise, ihrem Ende entgegensehen. Das ist ein Mentalitätsproblem, genauer: ein Phänomen zivilisatorischer Entartung.
Wir können diesen hyperzivilisatorischen Anspruch auf Annäherung an die Unsterblichkeit zur politischen Maßgabe machen. Wir können uns gesellschaftlich darauf einigen, dass wir mit allen Mitteln daran arbeiten wollen, die Lebenserwartung auf mindestens 91 Jahre hochzuschrauben, und wir können diesen Willen in staatliches Handeln übersetzen. Das müsste dann aber vorher mal politisch ausgehandelt werden, und im Wettbewerb der Ideen durch Wahlentscheidungen legitimiert werden.
Wenn eine Partei anträte mit dem Versprechen: „Sobald wir regieren, werden wir die Lebenserwartung auf 91 Jahre hochschrauben, koste es, was es wolle“, und diese Partei würde dann die Regierung stellen, dann müsste man als kritischer Zeitgenosse wohl eingestehen: „Okay, das ist Demokratie, die Mehrheit will länger leben, und zwar dadurch, dass der Staat sie einsperrt und die Wirtschaft zerstört. Ich wandere dann mal lieber aus.“

Wenn die real amtierenden Regierungen in Bund und Ländern sich aber plötzlich so verhalten wie diese fiktive „Partei LE 91“, dann würde ich doch zumindest gerne mal eine klar und deutlich ausgesprochene Begründung hören, eine Rechtfertigung, eine Erklärung für diesen beispiellosen Paradigmenwechsel, der vielleicht durchs ZDF-Politbarometer, aber nie durch eine demokratische Wahl legitimiert worden ist.

Wenn ein verfassungswidriges Gremium aus Kanzlerin und Ministerpräsidenten sich zu den willkürlichsten und undemokratischsten Bizarrerien ermächtigt sieht, sollte es sich wenigstens mal vor die Kameras stellen und im Chor folgendes Bekenntnis aufsagen:
„In dem Glauben, dass die Mehrheit der Menschen genau so verwirrt, verweichlicht und vermessen ist wie wir, sind wir zu dem Beschlusse gekommen, dass eine Lebenserwartung von 81 Jahren zu gering ist, und dass man alte Menschen nicht an Lungenversagen infolge von Infektionen sterben lassen darf. Das war bisher zwar immer der Normalfall, aber wir ertragen diese Normalität nicht mehr. Wir haben in den letzten Jahren oftmals 25.000 Menschen an der Grippe sterben lassen, das war unverzeihlich, und selbstverständlich sind wir bereit, rückwirkend dafür die Verantwortung zu tragen. Alle Politiker, die in den letzten zehn Jahren Ämter bekleidet haben, speziell in Funktionen, die irgendwas mit Gesundheit zu tun haben, treten umgehend zurück, weil es ihnen offenbar völlig egal war, dass Zehntausende vermeidbarerweise gestorben sind.
Die unter uns Politikern, die dann noch übrigbleiben, werden ab jetzt alles tun, wirklich alles, damit sich nie wieder ein Mensch mit einem Virus infiziert, denn es ist besser, Menschen in isolierten Edelstahlbehältern 100 Jahre alt werden zu lassen, als dass sie in Freiheit nur durchschnittlich 81 werden. Wir ordnen diesem Staatsziel alles unter. Die Wirtschaft wird sehr viel schwächer werden, und logischerweise werden sich alle Dinge des Lebens im gleichen Maße reduzieren. Aber wir erkennen, dass die Menschen diesen Weg mitgehen wollen. Jeder einzelne ist bereit, mit vielleicht zehn oder zwanzig oder dreißig Prozent Wohlstand und Lebensqualität weniger auszukommen, wir alle sind bereit, Millionen Arbeitslose in Kauf zu nehmen, ein Land ohne Kulturstätten, ein Miteinander ohne Gesichter, ein Leben ohne Freude. Wenn es nur ein paar Jahre länger währt!
Wir bitten Sie, uns für diesen Weg Ihr Vertrauen zu schenken, indem Sie einfach weiter brav Ihre Maske tragen und weiterhin untertänigst die Schnauze halten.“

Das würde ich wenigstens gern mal hören.
Dann könnte ich mit der bestehenden Situation vielleicht etwas besser klarkommen, weil ich dann sicher sein könnte, dass nicht ich der Verrückte bin, sondern dass es wirklich die Welt ist. Oder zumindest die sie beherrschenden Politiker, gegen die man dann vielleicht mal umfassende Lockdown-Maßnahmen erwägen müsste.

Aber pardon, Herr Professor Kekulé, ich habe Sie gar nicht so lange unterbrechen wollen … bitte fahren Sie fort.“

 

* Talk im Hangar-7 mit Michael Fleischhacker, 3. Dezember 2020, Servus TV
** https://www.servustv.com/videos/aa-245qmd3qw1w12/
(bei 28:35)

 

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© Marcus J. Ludwig 2020.
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