Die Stimme von Emily Reo

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Emily Reo ist ein bionisches Reh, eine von Glühwürmchenschwärmen umfunkelte Hybrida, duftend nach Chlorophyll, Flexinity und Aramid. Vielleicht ist sie auch eine Goldkatze, eine Luparda oder Kentaurin, jedenfalls irgendein künstliches Tier, ein geflügeltes Artefakt mit Drähten im Bauch und blinkenden Dioden hinter den Glasaugen. Sie wurde vor Jahrtausenden ausgesetzt in den Wäldern und einfach vergessen von ihren Erbauern, und jetzt geht der Akku langsam zu Ende, und ihre Restlaufzeit nutzt sie dazu, das zu machen, was die Menschen einmal Musik nannten. Einklang und Erlösung. Sie blinkt und singt, im Wellengang des Waldes wandelt sie mit dem Morgen, und die Tiere schlagen die Augen auf. Keines schlich in der Dämmerung, keines noch trieb es zur Jagd, all unsere Seelen lagen noch in sich geduckt unter Fellen und Federn. Zwischen Fichte und Hainbuche zuckte zuweilen ein Traum, sah sich aus Schwarzaugen um in der Nachtewigkeit, überließ sich zurück ins Vergessen, dies Fallen, das frei die Natur sich erfand für uns alle, die atmen, die tausendmal proben, bevor sie ein Ende ereilt. Zu eilen hört es schon auf, wenn das Köpfchen uns kippt und der Krampf sich gelöst aus den Gliedern und gegengestrengten Gesichtern. So falln wir zurück, bis ein Morgen uns hebt, ein kristallner Sopran aus der Tiefe von Wald und Galaxis. Ein lichtloser Punkt, so steckt unser Ich uns den Kopf ins Gefieder und weiß, dass ein Flimmern uns weckt, wieder neu, wieder wild uns zutage zu treiben. Wenn Strahlen sich fächern, Azure sich wölben kopfüber der Zeit, Stellare und Blütenluft wehn über das Weltraumland.
Heute dauern die Träume. Alle Tiere hören die Stimme. Alle atmen sonantische Sonne.


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Die Stimme von Emily Reo glitzert über entgeisterten Schulhöfen und abgerockten Jahreszeiten. Ein amerikanischer Engel mit Photonensegeln über der Scapula schreitet und schwebt und teilt im Tanzen die Zeit. Arrondierung unsrer Erinnerungen an die Zukunft. Alle Mädchen, die wir nie haben konnten, alle Melusinen und Magdalenen, die unsere Gebete nie hören wollten. Vielleicht konnten sie sie nicht hören, weil sie sich vorbereiten mussten, Sinuskurve zu werden und Glockenhelle, außerirdisch auf jeden Fall, wenigstens überirdisch, wenigstens himmlisch. Jetzt sind sie Emily Reo.
Die Stimme von Emily Reo pulsiert einsam und gleißend irgendwo in der immer schmaler werdenden Schnittmenge zwischen SpaceFiction, Disney-Porno und Feenmärchen. Ihr Gesang ist ein Planetensystem aus kreisenden Klängen, ein hypnotisches Mobile aus Tricolorkätzchen, synthetischen Arpeggios und stehenden Sylphidenwellen. Ich verstehe nicht, was das bedeuten soll, aber darum geht es ja: nichts verstehen, nur hören und sehen. Ich sehe eine Stimme, die nur du sehen kannst, ich sehe die Chefstewardess auf der USS Calico, jenem gläsernen Raumgleiter, der beständig in Zeitlupe zwischen den erlesensten Supernovae und Pferdekopfnebeln und allen Ringen des Saturns hin und her mäandert, sie schwebt schwerelos singend um ihren Passagier herum, und sorgt ganz nebenbei und telekinetisch mit ihrem solaren Vocoderlächeln dafür, dass der Tropf mit dem Midazolam immer genau richtig eingestellt ist. „Richtig“ heißt: so, dass man nie richtig weiß, ob man träumt oder halluziniert oder endlich jene Stufen des harmonisierenden Wahnsinns erreicht hat, die einem in allen früheren Arten von Harfenmusik immer nur versprochen und verkündet wurden, sich dann aber doch nie einstellten. Aber man will das auch gar nicht wissen, weil die durchsichtigen Klänge, die sich da kühl und bunt ins Blut träufeln, das Fragen längst abgestellt haben …
Die Fragen hören auf, und das ist das wichtigste. Die Stärke einer Lyrik und Lebenskunstlehre bemesse sich daran, ob sie in der Lage sei, den Schmerz zu übertönen, sich gegen das Elendsgeschrei der Krankheit durchzusetzen, so sang einmal ein wandernder Märchenphilosoph, einer, der dem Himmel zuweilen recht nahekam auf seinen Gewaltmärschen über die Gipfel und Eismeere des Menschlichen. Wir hier in unserem Raumschiffchen brauchen keine Philosophenstärke mehr, wir müssen nichts übertönen, keine Schmerzen, keine Fragen. Emily Reo singt, und es bleibt nur die eine Frage: warum, warum bei allen Andromedanebeln und Asteroidengürteln gibt es (außer zwei überhörbaren Frühwerken) nur dieses eine Album von dieser Sängerin, von dieser Frau, die ich bitte bitte niemals zu Gesicht bekommen möchte, denn ich weiß, sie kann aussehen wie sie will, sie wird nicht so aussehen, wie die Stimme, die in meinem Kopf Gestalt und Gesicht angenommen hat. Sie wird aussehen, wie man halt aussieht als gottbegnadetes Genie und Zauberkünstlerin, sie wird einen schrägen Pony haben und einen interessanten Sprachfehler und unkonventionelle Ansichten, und sie wird lauter unausgegorene Sachen sagen, die ihr Werk entwerten. Wahrscheinlich ist sie ein bisschen doof, so wie alle Musiker, wenn sie über ihre Musik sprechen. Ich werde sie vermutlich mal in einer schwachen Stunde googeln und mir im Internet ansehen, aber ich hoffe, ich werde stark genug sein, nur blinzelnd und unscharf an ihr vorbei zu sehen, so wie man an allem, was Menschen an Heiligkeit und Schönheit erreichen können, schräg vorbeiblinzeln muss. Die Verehrung verträgt sich schlecht mit Starrblick und analytischer Penetration.


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Emily Reo, Only You Can See It, Carpark Records 2019.
Kaufen. Sofort.
Diese Platte ist ein Wunderwerk. Ich höre sie seit etwa 120 Tagen täglich, manchmal mehrfach täglich, und sie wird immer besser. Wer sich nicht sofort die CD kauft und es mir gleichtut, soll bei lebendigem Leibe … (bitte nach Belieben ergänzen).
Wer die CD kauft, und 120-mal angehört hat, und zu dem Schluss kommt, ihm gefalle die Stimme nicht, oder die Musik sei doch nicht so dolle, oder auf der CD seien zu viele Lieder über tote Katzen, der soll nach allen Regeln der Kunst … (bitte nach Belieben ergänzen).
Wer aber die CD kauft, und 120-mal angehört hat, und genauso begeistert ist wie ich, und dann nach New York fliegt, um Emily Reo ein Jahr in ein Studio zu sperren, damit sie dort mindestens 365 Songs aufnimmt, die genauso gut sind wie die zehn Songs auf Only You Can See It, der soll alle Nobelpreise der nächsten zehn Jahre erhalten und als Wohltäter der musikalischen Menschheit milchstraßenweit verehrt werden.
So ist es hiermit beschlossen.

Und ich bin dann mal wieder unterm Kopfhörer …

 

 

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© Marcus J. Ludwig 2022
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