Der Wille zur Wirklichkeit

Eines ist in der Corona-Zeit sehr klar geworden, nämlich wo die Hauptfront des politischen Feldes heute verläuft: Sie verläuft zwischen Realisten und Fiktivisten. Sie verläuft zwischen denen, die Phänomene, Sachverhalte, Probleme wirklichkeitsgerecht erkennen und beurteilen wollen, um dann praktikable Umgangsweisen und geeignete, angemessene Lösungen zu finden – und denen, die mit „wertebasiertem“ Wunschdenken in einer mehr oder weniger wahnhaften Pseudorealität operieren. Sie verläuft zwischen denen, die – ungeachtet jeder Sinnfrage – die ungeschönte Wahrheit wissen wollen und bereit sind, damit zu leben, und denen, die sich lieber etwas vormachen, die sich die Dinge so zurechtbiegen – zur Not auch zurechtlügen –, dass sie mit ihren etablierten Weltanschauungen, Ideologien, Vorannahmen und Vorurteilen in Einklang zu bringen sind. Die primär relevante Scheidelinie verläuft also, psychologisch gesehen, zwischen zwei grundsätzlichen Modi, in denen der Mensch der Welt kognitiv begegnen kann: Akkommodation und Assimilation: Ich richte mein Denken und Erkennen nach den Erfordernissen der Gegebenheiten ein, oder ich mache mir die Welt, „widde-widde-wie sie mir gefällt“. Besser gesagt: ich versuche sie mir so zu machen – bis ich irgendwann notwendigerweise damit scheitere.

Die Begriffe Assimilation und Akkommodation sind der Piaget’schen Entwicklungspsychologie entlehnt, lassen sich aber mit ein wenig gutem (oder bösem) Willen auch sehr schön auf die Infantilismen der politischen Gegenwart anwenden.
Ein Kleinkind sitzt in der Badewanne zwischen Schaumbergen, es hat bereits gelernt, dass man mit den Händen nach Gegenständen greifen kann, und es wendet nun dieses Greifschema auch auf den Schaum an, der als räumlich zusammenhängendes Objekt vor ihm liegt. Es greift, aber da lässt sich nichts greifen. Die versuchte Assimilation schlägt fehl, der Zugriff geht ins Leere, die Realität verweigert sich dem Wunsch, dem „verhaltensschematischen Vorurteil“, sozusagen. Durch eigene Kreativität oder durch elterliche Hilfe muss das Kind erkenntnismäßig dahin gelangen, dass man mit diesem seltsam fluffig-flüssigen Gebilde vielleicht auch anders umgehen könnte. Die Mutter macht vor, wie man die Hände zusammenlegt und damit den Schaum schöpfen kann, das Kind akkommodiert sein instrumentelles Repertoire an die reale Beschaffenheit der Welt und gelangt auf ein höheres, adäquateres, neue Möglichkeiten eröffnendes Anpassungsniveau. [1]

Auf der Ebene des heranwachsenden handelnden Individuums ist die Tendenz zur realitätsgerechten Selbstkorrektur, also zur Akkommodation, gewissermaßen eingebaut. Ein Kind, das immer weiter nach dem Schaum greifen würde, würde im Leben nicht weit kommen.
Auf der Ebene politischer Großgruppen-Probleme allerdings gibt es solche Korrekturtendenzen nur im sehr langfristigen Maßstab. Von all den ausgebliebenen Akkommodationen – auch „historisches Scheitern“ genannt – handeln die Geschichtsbücher der neuzeitlichen Vergangenheit und (wahrscheinlich) der näheren Zukunft. Das menschliche Gehirn ist offenbar nicht dafür gemacht, Phänomene und Probleme auf dem Komplexitätsniveau von Millionen-Gesellschaften und Milliarden-Populationen zu prozessieren. Der politische Mensch, Parteien und ganze Nationen greifen immer wieder, jahrzehntelang nach dem Schaum und entwickeln kein Gefühl dafür, dass das womöglich komplett unangebracht und ineffektiv sein könnte.

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Den vollständigen Text finden Sie im Buch >> Bin ich rechts? – Und wenn doch, geht das wieder weg?

 

[1] Über Piagets Adaptations-Konzept ist viel Schwammiges und Halbverstandenes im Umlauf. Die wohl treffendste Erklärung findet sich bei Werner Stangl (Uni Linz):

Assimilation meint im wesentlichen ein aktives Interpretieren, Einordnen oder Deuten von Objekten und Ereignissen der Außenwelt in Begriffen der eigenen, gerade verfügbaren und bevorzugten Art, über diese Dinge zu denken. In den Anfängen ist die Assimilation im wesentlichen die Nutzung der Außenwelt durch das Subjekt, um die ihm angeborenen oder erworbenen Schemata zu stärken und zu vertiefen. 

Die stärker reaktive Funktion der Akkommodation bedeutet, der Struktur äußerer Daten Rechnung zu tragen. Die Akkommodation tritt nur dann auf, wenn es eine Diskrepanz oder Störung gibt, für die der Organismus noch kein bewährtes Schema besitzt.“

https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/KOGNITIVEENTWICKLUNG/Piagetmodell9.shtml

Piagets genetische Epistemologie liefert damit einen plausiblen Erklärungsansatz für das Erzübel des Fiktivismus: den Bestätigungsfehler (confirmation bias).


 

© Marcus J. Ludwig 2022
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