Der anderere Blick

Als ein im Körper eines Deutschen gefangener Schweizer, der sich gerade nach und nach eigenhändig zum Europäer umoperiert, werfe ich gelegentlich einen noch etwas andereren Blick auf die Extremismen der Gegenwart als der sogenannte „Deutschlandversteher“ vom sogenannten Zürcher „Westfernsehen“. Spaß macht mir das auch nicht, aber irgendwer muss ja mal anfangen, eingehend darüber nachzudenken, ob die ganzen goldenen Freitagsreden irgendetwas bringen, außer dem einen oder anderen Börne-Preis. Falls Sie jetzt gerade überhaupt nicht verstehen, wovon hier die Rede ist – lesen Sie einfach weiter.

 

„Der andere Blick“ – so heißt ein Newsletter der NZZ, der allfreitäglich vom Chefredaktor des Blattes, Eric Gujer, mit klarsichtigen Meinungen befüllt wird, welche dann von Klarsichtbedürftigen wie beispielsweise mir unter bedächtigem Brötchenkauen und Kaffeeschlürfen erwogen werden. Als Schweiz-Fan und Zürich-Fan – zugegebenermaßen: als Fan eines weitgehend literarisch-imaginären Zürichs, denn infolge unseliger Schicksalsverquickungen war ich noch nie leibhaftig an den Gestaden der Limmat zugegen, und das, obwohl ein überproportionaler Anteil meiner „Fanpost“ dorther stammt, was vielleicht aber auch nur daher rührt, dass die Zürcher einfach mehr Zeit zum Schreiben haben als andere, denn so mir meine Erinnerung nicht gerade einen statistischen Streich spielt, besteht gut die Hälfte der Zürcher Einwohnerschaft aus Millionären, hab ich irgendwo mal so aufgeschnappt, und da man als derart Betuchter ja nun nicht den ganzen Tag nur in seinem Geldspeicherli rumsitzen und all die schönen Franken und Rappen liebkosen kann, greift man halt schon mal zu Gänsekiel und Pergament und schreibt eine in Theuerdank-Fraktur kalligrafierte Epistel an einen Literaten aus dem nördlichen Barbarenreich, den man instinktiv und sehr zu Recht als Verwandten, als geborenen Eidgenossen und Baur-au-Lac-Habitué empfindet – worauf wollte ich jetzt noch gleich hinaus … richtig: als ein bedauerlicherweise im Körper eines Deutschen gefangener Wahl- und Fundamental-Schweizer also lausche ich den Leviten aus meiner transrhenanischen Fantasy-Heimat stets mit Behagen und Gewinn. Die Lektüre so eines Gujer-Traktats erspart einem sehr oft das Lesen dutzender sonstiger Kommentare zum Zeitgeschehen, denn hier wird vieles von dem, was unser Leben gegenwärtig so schüderlig und zum us de Huut fahre macht, fachgerecht analysiert und vernunftbasierter Kritik unterzogen. Mehr als einmal ist es mir passiert, dass ich einen eigenen Text mitten im Schreiben abbrechen musste, abbrechen durfte, nachdem ich die Gedanken des wohlverdienten Börne-Preisträgers verfrühstückt hatte. „Eigentlich hat der die Sache ja so ziemlich auf den Punkt gebracht, was soll ich da jetzt nochmal alles in meinen Worten wiederkäuen?“, so fragte ich mich des Öfteren und verschob manch obsolet gewordenen Textanfang in meinen mittlerweile ins Schrankkofferhafte angewachsenen „Fragmente-und-Rudimente“-Ordner.

Mit dem vorliegenden Textanfang wird dergleichen sicherlich nicht passieren, denn er leitet ein paar Überlegungen ein, die denen des Herrn Gujer zur Abwechslung mal eher skeptisch bis kritisch begegnen, und ich hoffe einfach mal, dass er meine Einwände nicht durch zuvorkommende Selbstkritik überflüssig machen wird.

Was also habe ich zu kritisieren? – Nichts Spezielles, eher Prinzipielles. Aus Eric Gujers Texten spricht der gesunde Menschenverstand einer guten alten Zeit und einer zur Selbstverständlichkeit gereiften Demokratie. Man kann sich eigentlich gar nicht vorstellen, dass etwa das, was er zuletzt in seiner Stellungnahme zu den gesinnungspolizeilichen Umtrieben an deutschen Hochschulen schrieb *, von irgendeinem mitteleuropäisch-aufgeklärten Menschen irgendwie anders gesehen werden könnte. Es sind im Grunde lauter Trivialitäten, die man in einem freiheitlich fundierten Gemeinwesen gar nicht aussprechen muss. Wenn man es doch muss, dann ist es mit der Freiheit offenbar schlecht bestellt.

 

Gewalt über das Weltgefühl

Der „Deutschlandversteher“ (Focus) von der Falkenstraße schreibt ganz in meinem Sinne von der Schändlichkeit und Gefährlichkeit dessen, was hasenfüßige Universitätsrektorate an extremistischer Einflussnahme dulden oder sich gar zu eigen machen, er verweist auf die deutsche „Cancel Culture“ der 30er-Jahre, von der der Zeitzeuge Golo Mann in seiner Autobiographie berichtet, er sieht in dem ideologischen Gebräu an den Hochschulen einen Vorgeschmack dessen, was wir in Bälde schon in der Gesamtgesellschaft erwarten dürfen. Gujer mahnt und warnt und verteidigt die Freiheit. So weit, so gut. Wo ist das Problem?

Das Problem ist, dass diese Art des Mahnens und Warnens mir zunehmend ungeeignet scheint, die Freiheit zu verteidigen, und dass wer auf diese alte, zivil-schweizerische Art mahnt und warnt, die tatsächliche Gefahr dramatisch unterschätzt. „Es ist später, als du denkst“, lautet nach Gehlen das erste Geschichtsgesetz (keine Ahnung, wo der das herhat). Und ich glaube, heute ist es schon sehr viel später, als wir denken. Nicht nur, was die Freiheiten an unseren Universitäten angeht, sondern überhaupt was die verbleibende Restzeit zur Rettung Europas und des gesamten freien, aufgeklärten, abendländischen Menschentums angeht. Vielleicht bin ich zu oft in nichtrepräsentativen Städten unterwegs, aber verglichen mit meinen Jugendjahren hat sich die Quote der Kopftücher und Freibadschlägerfrisuren in den Fußgängerzonen des Okzidents schätzungsweise verfünfzigfacht. Um gelegentlich ein bisschen altes Europafeeling ohne orientalische Archaismen zu tanken, muss ich mittlerweile hunderte Kilometer reisen, nach Münster, nach Weimar, nach … nach … hm, mir fällt bestimmt noch was ein …

Ich glaube, Eric Gujer ist wohl ziemlich genau das, was man einen Liberalen nennt. Ich glaube, das bin ich in etwa auch, zumindest im Prinzip und unter idealen Umständen. Ich sortiere mich normalerweise nicht so gern irgendwo ein, auch nicht unter irgendwelchen Hochwertvokabeln, aber „Freiheit“, im pathetischsten Sinne des Wortes (also ganz sicher nicht im FDP-Sinne), das ist letztlich alles, worum es mir in politicis geht, und als Künstler geht es mir letztlich vor allem um die Freiheit von der elenden Politik. Aber die Zeiten sind gerade nicht danach, dass sich der Künstler freinehmen könnte von seinen Bürgerpflichten und das Politische einfach den genuin dafür zuständigen drei Gewalten überlassen könnte. Und das liegt vor allem daran, dass die sogenannte vierte Gewalt großräumig von Kräften gekapert worden ist, die mit echter Demokratie, mit europäischer Gesinnung, mit Pluralismus, mit Freiheit, mit Bürgerlichkeit (und Bürgerschaftlichkeit) rein gar nichts mehr am Hut haben, und alles, was sie unter diesen gloriosen Namen im Munde führen, ist nur mehr Gebrabbel und billige Karikatur.

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Den vollständigen Text finden Sie im Buch >> Bin ich rechts? – Und wenn doch, geht das wieder weg?

 

 

© Marcus J. Ludwig 2022
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