Aus der Nachwelt (3)

Grobnotiertes Gemurmel beim Lesen von Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“

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Thomas Mann – ein Mann der Rechten? So fragt Stefan Breuer in einem Aufsatz aus dem Jahr 1997, um nach dem Abgleich einiger der grundlegenden Positionen des Unpolitischen mit denen der konservativen Revolutionäre zu dem Ergebnis zu gelangen, der zeitweilig national und monarchistisch gesinnte Autor habe sich in der Weimarer Republik nicht nur zum Demokraten, sondern am Ende gar zu einem Linksliberalen gewandelt.

Anhaltspunkte, ja Bekenntnisse dahingehend gibt es zweifellos: „Die bürgerliche Revolution muß sich ins ökonomische fortentwickeln, die liberale Demokratie zur sozialen werden. Jeder weiß das im Grunde, und wenn Goethe gegen das Ende seines Lebens erklärte, jeder vernünftige Mensch sei doch ein gemäßigter Liberaler, so heißt das Wort heute: Jeder vernünftige Mensch ist ein gemäßigter Sozialist.“

Aber man muss sich schon vor Augen halten, dass Thomas Mann Ende der Zwanziger und auch noch 1950, als er die Rede Meine Zeit hielt, der das obige Zitat entstammt, sowohl unter dem Liberalismus als auch – und vor allem – unter dem Sozialismus etwas sehr anderes verstehen konnte als das, was uns „liberale“ und „linke“ Parteien heute unter solchen Labeln unterzujubeln die Kühnheit besitzen. Den heutigen Linksliberalismus – jenen grün-gefühligen Lifestyle, der weder links noch liberal ist – hat Sahra Wagenknecht in ihrem lesenswerten Buch über „die Selbstgerechten“ anschaulich analysiert und kritisiert. Der heutige Linksliberalismus ist im Grunde ein „progressiver Neoliberalismus“, der mit den genuinen Anliegen der Arbeiterschaft und des neuen Service-Prekariats nicht das Geringste zu schaffen hat, der solche Anliegen vielmehr offen verachtet und problemlos alle möglichen sozialen Verwüstungen unter dem Deckmantel von Weltoffenheit und Weltbürgertum rechtfertigt. Der Linksliberalismus – manifestiert in Mindset-Marken wie ZDF, Grüne, ZEIT, Bundeswehr, Deutschlandfunk, EKD, FU Berlin, IKEA, Google, DFB, Bertelsmann-Stiftung, Bundeszentrale für politische Bildung etc etc. – ist ein einziger Etikettenschwindel, eine halbbewusste, zwischen Ideologie und Fiktivismus salbadernde Selbst- und Weltverarschung, die uns kulturruinöse, wirtschaftsliberale Inhumanitäten als hochglänzende Zukunftswerte andrehen will: „So wurde aus Egoismus Selbstverwirklichung, aus Flexibilisierung Chancenvielfalt, aus zerstörten Sicherheiten Abschied von Normalität und Konformität, aus Globalisierung Weltoffenheit und aus Verantwortungslosigkeit gegenüber den Menschen im eigenen Land Weltbürgertum.“

Linksliberalismus ist eine Selbstzuschreibung des „gutmenschlichen“, urbanen, akademischen Milieus geworden, ein Narrativ von heiligdemokratischen Werten und ihrer allgegenwärtigen Bedrohtheit, von sündigen Anfängen, denen es zu wehren gilt, eine zivilreligiöse Erzählung vom richtigen Leben in einer Welt schlechter, rechter Menschen von gestern.

Thomas Mann mag mit einer Seite seines Wesens durchaus ein Linker und ein Liberaler gewesen sein – abgesehen davon, dass er mit der gleichen begrifflichen Unbestimmtheit natürlich auch ein Rechter und Konservativer war.
Niemals aber – ich verwette alle meine Bände der GKFA – würde Thomas Mann sich mit dem pseudolinksliberalen Pharisäertum von heute gemein machen. Niemals würde er sich von den Zerstörern der europäischen Kultur, den Zerstörern der deutschen Sprache, den Zerstörern von Vernunft, Humanität, Demokratie, Freiheit, Verständigung, Geist und Kunst vereinnahmen lassen. Er würde heute wieder auf der Seite der Verfemten stehen. Er würde heute – wie alle vernünftigen Leute – gecancelt, gedisst, diffamiert und ausgegrenzt: als Rechter.

Es wäre schön, wenn Frido Mann, als letzter prominenter Statthalter Mann’schen Geistes auf Erden, dies einmal in lauten und öffentlichen Worten aussprechen würde.
Denn heute heißt das Wort: „Jeder vernünftige Mensch ist ein konservativer Realist.“ Von mir aus auch gern ein linkskonservativer Realist.


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Gibt es heute eigentlich überhaupt noch echte Konservative? Mir fallen keine ein. Konservativ nennt man heute wohl ältere Männer, die die Welt ihrer Jugend zurückhaben wollen, also so vom Feeling her; moderne Medizin soll es natürlich schon geben, versteht sich. Und den ganzen technischen Annehmlichkeitskram, den es im MediaMarkt gibt, möchte man auch nicht unbedingt missen. Hemmungslose Sentimentalisten – zu denen ich mich phasen- und anfallsweise wohl rechnen muss – sehen gar im Kaiserreich „das beste Deutschland, das es je gab“. Zumindest wäre die Zeit zwischen 1871 und 1914 ganz sicher meine erste Destination, wenn Elon Musk endlich mal die Zeitmaschine zur Serienreife brächte.

Konservativ ist jedenfalls bestimmt nicht die CDU, nicht einmal in diesem sentimentalen Sinne. Die können ja schon mit Adenauer nichts mehr anfangen. Wer heute wirklich konservativ wäre, müsste notwendig ein entschiedener Gegner des Systems sein, ein wirklicher Christ müsste ein Todfeind des Systems sein. Sowohl des politischen, als auch des wirtschaftlichen und vor allem des medialen Systems. Es geht den Menschen heute einfach zu gut, das Leben ist – immer noch und trotz allem – zu bequem, zu behaglich für Entschiedenheit und Todfeindschaft. Niemand will „richtig“ und „konsequent“ leben, wenn er „gut und gerne“ leben kann. Ich bin (wahrscheinlich) kein echter Konservativer, ich will auch keiner werden, aber ich fände gut, wenn es noch welche gäbe.

Was echte Christen und Konservative sind, hab ich zum ersten Mal ansatzweise verstanden, als mein Reli-Lehrer – Pastor, Büchernarr, Weinkenner, Weltreisender, ein hochgelehrter, grundgütiger und humorvoller Pädagoge, dem ich mehr zu danken habe, als allen anderen Lehrern zusammen – von einem Paar erzählte, das er kürzlich getraut hatte. Sie waren vor der kirchlichen Zeremonie schnell noch in Alltagsklamotten auf dem Standesamt gewesen, um den behördlichen Kram zu erledigen, und hatten dem verdutzten Beamten auf seine Frage, ob sie denn keine Feierlichkeiten wünschten am Tage ihrer Vermählung, nur geantwortet, er solle sich jetzt bitte beeilen mit den Formalitäten, mit den Stempeln und Unterschriften, die standesamtliche Heirat sei für sie nichts anderes als eine Ausweisverlängerung. Ihre Eheschließung sei einzig ein Akt vor Gott, ein heiliges Sakrament, aus dem der Staat sich mit seinen Bürokratengriffeln gefälligst rauszuhalten habe – wenn es nach ihnen ginge. Aber es ging nun mal nicht nach ihnen, also kämen sie hier zähneknirschend ihrer staatsbürgerlichen Pflicht nach. Aber feiern würden sie das bestimmt nicht, dass ein Beamter sich anmaße, ihren Liebesbund zu besiegeln. Und jetzt solle er bitte schnell-schnell seine Stempel auf den Wisch da drücken.

Ich glaube, das war damals schon extrem extravagant, aber immerhin gab es solche echten, widerständigen Christen vor etwa 35 Jahren noch. Dass sich solch eine Szene heute noch abspielen könnte, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen; heute, wo der Staat sich bei jeder Gelegenheit als bekenntnis- und bußfreudige Religionsattrappe aufführt, wo vor jeder gottverlassenen Kirche die Regenbogenflagge weht, wo Kirchentage nicht von Grünen-Parteitagen oder Gewerkschaftskundgebungen zu unterscheiden sind, wo niemand sich ein Leben in Gottes Hand, abseits des Staates, noch vorstellen kann – zumindest niemand außer den einzigen, die es noch ernst meinen mit ihrer Religion: den Muslimen.
Die Menschen haben gelernt, den Staat als Zeremonienmeister, als Segen- und Sinnspender zu akzeptieren. Man muss kein ästhetischer Fundamentalist sein, um so etwas degoutant zu finden.
Ich bin Atheist. Ich will nicht, dass Menschen zu Göttern beten, vor Götzen knien, sich vor Wahnbildern ängstigen, sich Illusionen hingeben. Aber ehe sie sich von einem Standesbeamten kurz vorm Kantinengang ihre Liebe zertifizieren lassen, sollen sie denn doch lieber am Altar einer gotischen Kapelle Ringe und Eide tauschen und sich vorstellen, dass ihr Vater im Himmel ernst und gütig dazu lächelt.


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Thomas Mann – ein Mann der Linksliberalen? Ja vielleicht, wenn man darunter das Gegenteil dessen verstehen will, was heute darunter firmiert. Wenn man aber Begriffe verwenden will, deren Semantik sich nicht alle dreißig Jahre um 180 Grad dreht, dann scheint mir Breuers einleitende Einordnung Thomas Manns als Vertreter einer „liberalen Restauration“ sehr viel haltbarer. Übrigens auch sehr viel praktischer für die Anwendung auf unsere Gegenwart. Denn eine liberale Restauration wäre in diesen freiheitsfeindlichen Zeiten des destruktiven Modernismus mutmaßlich genau der gemeinsame Nenner, auf den sich Oppositionelle – nicht aller, aber vielerlei Couleur – einigen könnten. Wenn ein paar vernünftige Leute aus AfD, Linkspartei und FDP sich mal ein paar Wochen zur gemeinsamen konzentrierten Thomas-Mann-Lektüre in den Bonner Kanzlerbungalow oder ins Weimarer Goethehaus einschließen lassen wollten, könnte daraus eine interessante neue Partei hervorgehen. – Liberale Restauration, tapfere Modernität, ehrlicher Rationalismus, romantische Bürgerlichkeit, „Lübeckisierung“ Deutschlands. Vielleicht würde ich da trotz meiner Politik-und-Parteien-Allergie sogar eintreten.


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Vielleicht auch nicht.


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Das „Vielleicht“ ist die Grundtonart des Essays. Es ist beim Essay als vorwissenschaftlich-halbliterarischer Experimentalform quasi eingeplant, dass man sich verspekuliert. Man ist Denker und Grübler, kein Weiser oder Wissenschaftler. Man lässt Leser, die sich einlassen wollen, an Denkversuchen teilhaben. Der Essay will nicht überzeugen, höchstens anregen, auch den Autor selbst. Was den Essay vom Sachbuch (oder Sachtext) unterscheidet, ist der Umstand, dass das Nachdenken im Buch stattfindet, nicht vor dem Buch. Die Denkbewegung ist Teil des Textes, nein, sie ist der Text. Das Sachbuch präsentiert die Resultate eines sachkundigen Autors, nachdem er nachgedacht, geforscht, recherchiert hat. Der Essayist stellt keine Ergebnisse vor, er zeigt, wie er denkt. Inklusive aller Umwege, Abwege, Sackgassen. Der Essay ist ein Angebot, an so einer ungewissen Spazierfahrt durch die Hypothesen teilzunehmen, und in sich nachzuspüren, wo Resonanz entsteht, um dann selbst weiter zu denken …
Es ist schön, wenn das Denken gelingt und am Ende etwas Präsentables herauskommt. Aber das ist nicht das Wichtigste. Das Wichtigste ist die Sehenswürdigkeit des Gedankengangs, im Idealfall: des Gedankentanzes.

Man läuft bei solch dandyhaft-unmethodischer Texterei natürlich regelmäßig Gefahr, nur das eine Wort durch ein anderes zu ersetzen. Oder es mit tausend Schattierungen und Nuancen zu umstellen. Das Ergebnis ist dann zuweilen umwerfend geistreich, aber wenig befriedigend, weil auf den Augenblicksgenuss beschränkt – so wie jeder Rausch.
Gleichwohl sind solche synonymischen Spielchen nicht per se sinn- und zwecklos, denn – mal abgesehen davon, dass es natürlich sehr drauf ankommt, wer da gerade spielt, und wie interessant demzufolge so ein Spiel mitanzusehen ist – ganz synonym sind die Worte eben doch so gut wie nie. Und wenn es gelingt, die richtigen Worte, die passend nuancierten und konnotativ „begabten“ Begriffe so zurechtzuschleifen und anzuordnen, dass sie sich produktiv ineinander spiegeln, dass sie ihre Akzente und Bedeutungsbrillanzen wechselseitig reflektieren, dann kann mit einem Male die Evidenz als semantischer Blitz hell hervorleuchten aus dem Gehänge der zitternden Scherben und Halbgültigkeiten.
Und dann ist sie da, diese plötzliche Art von Erkenntnis, die wir beim Dichter suchen; das ist der freudige Klarheitsschock, den uns so, so fulgurativ und offenbarungsgewaltig keine Wissenschaft je verschaffen kann.
Aber wollen wir das heute noch? Vom Blitz getroffen werden, von Offenbarungen geschockt werden?

Wir können so etwas wie die Betrachtungen heute genießen, wie wir im Grunde fast alle Kulturschöpfungen aus Thomas Manns kunstsinnigen Zeiten genießen können, als Zimelien und Faszinosa. Aber wir können nicht mehr so schreiben, nicht mehr so denken und argumentieren. Wir müssen mehr Stringenz, mehr Linie, mehr Kontur verlangen. Die heutige Welt lässt sich kaum mehr in sprachlicher Differenziertheit abbilden oder kritisch „bewältigen“. Wir müssen sie auf ihre letzten Sinn- und Funktionseinheiten hin befragen, wir brauchen Fixpunkte in der Wirklichkeit, wir müssen mehr Realismus verlangen als jene Epoche, die – bei all ihren Unter-Ismen – doch eine vorwiegend realistische genannt werden kann. Aber diese Art von Realismus reicht uns nicht mehr, dieser Realismus der Fülle, der Gänze, der Komplexitätsvehemenz. Dieser Überwältigungsrealismus, der uns glauben macht, er habe doch schließlich alles korrekt und umfassend abgebildet und das reiche dann. Es reicht nicht mehr. Die heutige Essayistik braucht einen analytischeren Realismus, wir brauchen Farbtreue, Tiefenschärfe, 8K-Auflösung, Contrast-Enhancement, Full-Array und Dolby Atmos, einen State-of-the-Art-Realismus, der mit radiologischer Unerbittlichkeit, mit unwiderlegbaren Ultra-HD-Evidenzen einschreitet gegen den plumpen Fiktivismus des Zeitalters.
Aber dafür bin ich höchstwahrscheinlich nicht der Richtige.


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Was genau war noch gleich Fiktivismus?
„Fiktivismus“ soll jene Mentalität heißen, die aktiv oder passiv eine Welt bejaht, die von Realitäten und Evidenzen so weit entkoppelt ist, dass lebbare, sinnstiftende Narrative überdauern können, die in dem Maße wahrnehmungslenkend und handlungssteuernd werden, wie sie den Wünschen und moralischen Idealen des Fiktivisten bestätigend entgegenkommen. Vom Ideologen unterscheidet der Fiktivist sich dadurch, dass seine fantasierte Wunschwelt eine weitgehend unbewusste ist. Der Ideologe weiß – sehr oft zumindest –, dass er sich und andere täuscht und belügt. Er betrügt, er dichtet, er halluziniert im Dienste einer höchsten Sache, und er weiß nachts im Dunkeln doch recht gut, dass er sich und seinem Publikum gewaltsam etwas einredet. Der Fiktivist weiß das nur ganz selten und ahnungsweise, er ist dem Gläubigen und dem Wahnkranken sehr viel näher als der Ideologe, welcher dem Kriminellen näher steht. Es ist ein gradueller Unterschied hinsichtlich des Ausmaßes an Realitätsverlust. Es ist vor allem aber ein qualitativer Unterschied zwischen dem idealistischen Verbrecher und dem infantilen Bullshitter einerseits und dem Realisten andererseits, ein letztlich moralischer Unterschied hinsichtlich des Willens zur Wirklichkeit. Also hinsichtlich der Selbstachtung vor dem Richterstuhl einer Welt, die für Menschen, die wach werden und wach bleiben wollen, vorerst nur Strafen bereithält. Der Realist lebt zu allen Zeiten ein anstrengendes, zermürbendes Leben gegen die planetarische autopoietische Truman-Show. Und solange Ideologen und Fiktivisten auf Erden das Sagen haben – „das Sagen“ im Sinne von Medienmacht –, so lange wird Homo Sapiens sich nicht dorthin entwickeln, wo Wahrheitsliebe ihm zum evolutionären Vorteil gereichen könnte.


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Aus Thomas Manns Tagebuch – am 24. November 1953 unterhält er sich „[…] mit Erika über den Gedanken, welches Wunder es mit einer Zeitung wäre, die die Wahrheit sagte, und hinter der eine Geldmacht stände. Aber welche Geldmacht hat Interesse an der Wahrheit!“


Fortsetzung folgt …

 

 

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© Marcus J. Ludwig 2022
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