Aus der Nachwelt (2)

Grobnotiertes Gemurmel beim Lesen von Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“

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Geschichte, Studierstube, Sonntagsstille. Scheidemann: Der Feind steht rechts! – rauhes Papier, Fingerabdrücke und flüsternde Gespenster von 1919. Behaglichkeit des halb erhaltenen Gestern, des Entfärbten und Abgeschlossenen. Wir suchen die langen Linien, legen sie vom Damals durchs Heute, dass sie uns die Richtung der Zukunft weisen. Aber da weist nichts, die Zukunft ist zu jedem Zeitpunkt, in jeder Sekunde offen für Windungen und Ausschläge aller Art. Es gibt keine langen Linien. Wenn die Alten „Herrschaft“ sagen oder „Natur“, oder „Wirtschaft“, „Kapital“, „Technik“, „Leben“, „Krieg“, „Staat“, „Zeit“, dann meinen sie etwas ganz anderes damit als wir. Es gab vor hundert Jahren Zeitungen und Bücher und Flugblätter, sonst nichts. Kein Radio, kein Fernsehen, kein Internet.

Wir suchen vergebens nach Autoritäten aus dem Jenseits, dem warnenden Präteritum. Es gibt keine Vorgänger, die für uns Erfahrungen gemacht hätten, damit sie uns erspart blieben. Thomas Mann, Romain Rolland, Oswald Spengler, René Schickele, Ernst Jünger, Kurt Hiller, Max Weber, Karl Kraus, tote Männer, alte Schrift, abgelebte Zeit, die sich so wichtig nimmt wie jede Gegenwart. Wer könnte schreiben, streiten, auch nur leben, wenn es nicht ein wenig wenigstens ankäme auf ihn. Jedes Zeitalter geht auf dem Grat zwischen den Abgründen. Jedes Zeitalter fängt bei Null an. Nur dass die Null jedesmal etwas höher liegt. Das Gelände als Ganzes hat sich gehoben. Das ist der ganze Fortschritt: die gleichen Kämpfe, die gleichen Idiotien, die gleichen Fehler machen, nur halt einmal als Kupferstich, einmal als Schwarzweißfoto, einmal als Stummfilm, einmal als Farbfilm, einmal als CGI.


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TM sieht, wie das zwanzigste Jahrhundert dem achtzehnten zu ähneln beginnt, „es schwärmt für ‚den Menschen‘, ganz im dix-huitième-Geschmack“. „Die ‚Menschheit‘ ist wieder an der Tagesordnung“, „Neues Pathos“ und eine „Tugendherrschaft“, die „alle Sittlichkeit für sich in Anspruch nimmt“, „doktrinäre Intoleranz“, „die Politisierung jedes Ethos“, „humanitärer Internationalismus“, „Kunst und Rhetorik im Dienste sozialer Wünschbarkeit“, und so fort – und wir stellen fest, dass das angeblich kurze zwanzigste Jahrhundert mentalitätsgeschichtlich noch lange nicht vorbei ist, das (kalendarisch) einundzwanzigste knüpft nach kurzer Entspannung während der Neunziger wieder nahtlos an die moralischen Totalitarismen „aufklärerischer Weltbefreiung“ an. Wir leben noch immer im Zeitalter des Zivilisationsliteraten … wenn es denn wenigsten Literaten wären, die den Ton angeben, Künstler vom Kaliber eines Heinrich Mann … was wir stattdessen heute haben, sind Haltungsjournalisten, Tugendpublizisten, Anstandsaktivisten. Wir haben Sascha Lobo und Bettina Böttinger.

Gegen den Zivilisationsliteraten wäre ja eigentlich wenig einzuwenden. Ich habe es nie über mich gebracht, ihn als Gegner des „Kulturliteraten“, des unpolitischen Dichters und Philosophen, des Poeten, Propheten und Zauberers zu sehen. Er könnte sein Komplement sein, wenn man sich denn mit Herrmann Hesse dazu durchringen wollte, die generelle anthropologische Bipolarität des Menschlichen anzuerkennen, und die grundsätzlichen Gegensätze im Sinne produktiver Spannung gewähren zu lassen.

Als wäre TM kein Zivilisationsliterat … natürlich ist er das. Unter anderem. Und natürlich weiß er das. Daher das Hin und Her, daher zuweilen die Lautstärke und exaltierte Selbstübertönung. Was hat einer wie er mit den Aventuriers der „konservativen Revolution“ zu schaffen … nun, so viel wie der Ironiker halt immer mit den Steilheiten des Lebens zu schaffen hat: Er findet sie interessant genug, um sie versuchsweise in sich und durch sich reden zu lassen. Er weiß zu unterscheiden zwischen Interesse und Identifikation. Das heißt, er muss gar nicht groß unterscheiden, das Interesse ist ihm die angeborene Weise, sich in der Welt zu bewegen, sich den Dingen zu nähern. Identifikation mit einer Idee, oder gar einer Ideologie, ist ihm etwas zutiefst Fremdes. Der Drang der Masse, immer irgendwo dazugehören zu wollen, sich wesenhaft, mit Leib und Seele einer Gesinnung, einer Schule, einer Partei zu verschreiben, dünkt ihn geradezu das Grundübel der jüngeren Geschichte.

„Urteilen Sie!“, fordert der Zivilisationsliterat Settembrini vom Naivling Hans Castorp, aber der Naivling – gewissermaßen der kleine, leicht zurückgebliebene Bruder des Ironikers – urteilt seiner Natur gemäß nicht gern … er wird es irgendwann müssen, spätestens, wenn die Welt dermaßen politisiert ist, dass sie zum Schlachtfeld wird und ultimative Entscheidungen einfordert. Aber dahin darf es die Welt eigentlich nie kommen lassen: dass Ironie unmöglich wird. Leider tut sie es doch immer wieder, und momentan tut sie es wieder mit besonderem Eifer.

Ist übrigens der Weltrepublikaner Settembrini nicht trotz allem eigentlich die sympathischste Figur im Zauberberg? Ein bisschen lächerlich ist er wohl, dieser intellektuelle Drehorgelmann, dies schwatzhafte Über-Ich in karierten Hosen. Aber hat denn je jemand den Zauberberg gelesen und sich gewünscht, der gute Italiener würde im Duell niedergeschossen vom theokratisch-terroristischen Naphta?


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Bildband über die Familie Mann in Kilchberg. Wo Thomas Mann ist, ist Sonntag. Was hat dieser Mensch, dem immerzu Kühle, Kälte, Distanziertheit, Hölzernheit, Soigniertheit nachgesagt wird, dass jeder Raum, jede Stunde, jede Gesellschaft, die um ihn ist, von Feiertagslicht, von Sonne, Glockenklang, gestärkter Tischwäsche und erhobenen Herzen nur so strahlt? Und dann ist er tot, und die eben noch feierlich zentrierte Welt ist fortan nur noch Nachwelt und leerer Alltag. Golo Mann bewohnt irgendwann das Haus an der Alten Landstraße, und es sieht aus wie bei irgendeinem x-beliebigen Geschichtslehrer, ein graubraunes Akademikerdasein.

Schreckliches Schicksal, ein Kind Thomas Manns zu sein. Zu wissen, man kann sich mühen und plagen, wie man will – man wird nie auch nur in die Nähe dessen kommen, was der Vater geschaffen hat. Ein umsichtiger Freund der Familie hätte den Kindern frühzeitig raten müssen, sich auf Gebiete zu spezialisieren, die nichts, absolut gar nichts mit denen des Vaters zu tun haben: Bankwesen, Chirurgie, Maschinenbau, Sport, Chemie. Man durfte die Kinder nicht sehenden Auges irgendetwas beginnen lassen, das mit Schreiben und Denken, mit Kunst, Philosophie, Musik, Geschichte, Theologie, mit Psychologie, Politik, Sprache und Kultur zu tun hat. Auf dem Gebiet der Kunst wäre höchstens bei entsprechender Begabung eine Laufbahn als Maler oder Bildhauer denkbar gewesen, aber auch nur, wenn die Wahrscheinlichkeit bestanden hätte, Höchstes zu leisten darin. Einen wirklichen Triumph über den Vater hätte es bedeutet, wenn man als herausragender Musiker reüssiert hätte, als Komponist, Dirigent, Virtuose, wenn man etwas wie Bernstein, Menuhin, Barenboim geworden wäre. Aber man war eben Golo. Gewiss, man schrieb den Wallenstein und die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, weiß Gott keine Kleinigkeiten, keine Kinderspiele. Aber man schrieb eben. Und das hieß am Ende doch: Sohn bleiben, klein bleiben, ein Gnom hinter einem Giganten bleiben.


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Golo sagt im Gespräch mit Günter Gaus (1965), dass er den Tonio Kröger nicht besonders schätzt: „So ist ja der Künstler nicht. Und so war auch Thomas Mann nicht.“ – So war Thomas Mann nicht? Doch, so war er. Nur eben nicht für seine Kinder. Er hatte Verantwortungsgefühl und Disziplin genug, für seine Kinder ein Vater zu sein und kein Tonio Kröger. Aber wenn er mit sich allein war, war er natürlich genau das. Ein Verirrter, ein Zerrissener, ein ewig Gequälter und lebensuntauglicher Fremdling unter den Menschen auf Erden, ein neurotisches Sorgenkind des Lebens, das mit ein wenig Pech ebenso gut zum Verbrecher und vollbildlichen Psychopathen hätte geraten können statt zum ruhmreichen Repräsentanten. Das Glück war ihm günstig, es bereitete ihm – und uns – das staunenswerteste Ineinander von Qual und Glanz, das die Welt je gesehen hat.

Kinder sind, was ihre Eltern angeht, wohl die allerunzuverlässigsten Zeitzeugen. Wie sollte ich je etwas Gültiges über meinen Vater aussagen? Was weiß ich von ihm, außer dem, was durch mein Kinder-Ich in mich hineingewachsen ist? Ich weiß von meinem Vater so viel, wie ich von meinen inneren Organen weiß, von meinem Herzen, meinem Blut, von der mysteriösen Materie hinter meinen Augen: nichts. Ich spüre ein Pochen und Rauschen, kreisende Kräfte und schwankende Temperaturen. Sonst nichts. Wenn ich nah genug an den Spiegel trete, sehe ich seine schwarzen Augen in meinem Gesicht. Und ich sehe nichts als Fragen, die hin und her gehen. Wie sollte ich wissen, wie mein Vater war? Niemand kennt seine Eltern wirklich.

Seltsam übrigens, wenn Kinder von ihren Eltern erzählen, und sie dabei mit Vor- und Nachnamen bezeichnen … „so war Thomas Mann nicht“ … ich könnte von meinem Vater nie anders als von „meinem Vater“ reden … ich habe vielleicht ebenso viel Grund, meinen Vater zu hassen, wie Golo hatte, den seinen zu hassen, aber wie fern und fremd müsste er mir geworden sein, dass ich es fertigbrächte, ihn so personalausweis- und grabsteinmäßig beim Namen zu nennen …


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TM hat als einer der ganz Wenigen das große Ziel allen Künstlertums erreicht: Rechtfertigung. Rechtfertigung heißt: Am Ende deines Lebens sagt die ganze Welt: „Ja, es musste ihn geben, und es musste ihn genau so geben.“ Alles andere ist bloß Interessantheit und höhere Spielerei. Kafka … niemand versteht Kafka, niemand will sein wie Kafka, man staunt ihn an wie ein seltenes Wundertier, aber wer wollte so ein Leben haben? Wenn der Künstler am Ende nicht seine Lebensschuld beglichen hat, wenn er seine Lächerlichkeit nicht überwunden hat, das Unverantwortliche seiner Existenz nicht einigermaßen ins Notwendige, ins Heilsame und Bereichernde zu wenden vermocht hat, dann war alles nur Zeitvertreib und Parasitentum. Kafka starb, ohne je erfahren zu haben von seiner glänzenden Rechtfertigung, er ging in der Gewissheit, ein Ungeziefer gewesen zu sein.
Man darf nicht so früh abtreten, man muss aushalten und der Welt Zeit geben, die Beichte in voller Länge, in allen Tonlagen und Klangfarben zu hören. Die Menschen müssen eine Musik erst lange genug kennen, um sie ganz genießen und schätzen zu können.

Mit dem Erwählten von 1951 endet Thomas Manns dichterisches Werk, es kommen noch meisterhafte Essays, aber mit dem Eigentlichen, mit der Erzähllust ist es aus. Die Krull-Fortführung ist nur noch herausgequälte Nachgeburt, und die Betrogene kann man endgültig nicht mehr für voll nehmen. Ich habe sie einmal gelesen, und es grauste mich. Thomas Manns Zeit war abgelaufen, die Tagebücher legen davon beredtes Selbstzeugnis ab.

1952 erschien Das fünfte Jahr von Marlen Haushofer. Hier – nicht mit Grass, Walser oder Böll – ging die Literaturgeschichte weiter, hier fand die deutschsprachige Dichtung eine neue, weiblich-spröde, einsam-gewaltsame Stimme, hier war der Weg, den Thomas Mann nicht mehr finden konnte, es war auch nicht seine Aufgabe. Er hatte den Verfall seiner Welt, die Leiden all der problematisch Besonderen seines Zeitalters für die Ewigkeit aufbewahrt. Die neue Zeit kannte andere Qualen und andere Wunder, sie musste wieder mit dem Suchen und Staunen des Kleinkindes beginnen, um sich zögerlich und desillusioniert in eine Welt hineinzufinden, die nicht mehr gefunden und besungen und belebt werden will, die sich endgültig nicht mehr zur Heiterkeit wenden lassen will, eine Welt, die enden und neu anfangen will – wenn sie überhaupt irgendetwas will, außer ihre Erkenner in letzte, kalt und gleichgültig umwandete Isolate zu sperren.

Niemand wird in fünfzig Jahren noch Grass, Böll und sonstige deutsche Lehrerliteratur lesen (vermutlich tut es schon heute keiner mehr, zumindest nicht freiwillig), Marlen Haushofer aber wird man in fünfhundert Jahren noch lesen und lieben. Und fürchten.


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Unordnung und frühes Leid nach Jahren wiedergelesen. Ehrfurcht. Unterordnung und glühender Neid. Man möchte nie wieder einen Satz schreiben. Man sollte vielleicht diese akute Stümperscham nutzen, um sich endgültig zum Aufhören zu motivieren. Niemals wird irgendein Autor – schon gar nicht ich – solche Könnerschaft je wieder erreichen, diese psychologische Genauigkeit, dieses lässig-überlegene Bescheidwissen in allen Verästelungen des Menschlichen. Diese vollkommene Beherrschung des Wortes, des Deutschen mit seinen unausschöpflichen chromatischen und kombinatorischen Möglichkeiten, und die Beherrschtheit angesichts der ebenso unzähligen Verlockungen zu Fehltritt und Irrweg. Er macht alles richtig. Nirgends versteigt er sich. Man wüsste an keiner Stelle irgendeinen besseren Weg zu gehen.

Thomas Mann ist ein Abschluss; Höheres ist in deutscher Sprache kaum zu leisten. Nach Thomas Mann bestand im Grunde keinerlei Notwendigkeit, dass irgendwer nochmal zu Stift oder Tastatur greift. Das würde schon gelten, wenn er nur seine Erzählungen geschrieben hätte. Aber es gibt ja auch noch ein paar Essays und Romane. Allerdings … für seine Roman-„Theorie“ – wenn man die betreffenden Reflexionen als solche bezeichnen will – gilt ungefähr das, was er seinerseits über Wagners Theorie äußerte: Man muss so was nicht allzu ernstnehmen, solche Postulate, solche poetologischen Überbauungen und Unterfütterungen. Ich habe mit dem ganzen Gehabe ums Leitmotiv, um allegorisierende Beziehungssysteme, zweite Ebenen und Tiefenstrukturen und dergleichen nie viel anfangen können. Beziehungsreichtum als Maß geradezu für Sinn, die motivtechnische Durchkonstruiertheit einer Geschichte, die komplexe Verflochtenheit, der „strenge Satz“ als Gradmesser der Qualität – all das, was die ausufernden Theoretisierungen des Doktor Faustus und die einschlägigen Essays darüber mitteilen zu müssen meinen, mag noch immer lesenswerter sein als das meiste, was andere Dichter-Denker als Hauptwerk im Angebot haben, aber wenn man irgendwo bei Thomas Mann mal ein paar Dutzend Seiten überblättern will – allein schon, um die Tendenz zur Anhimmelei in sich zu bekämpfen – dann kann man es getrost hier tun, bei seinem Akademisieren der eigenen Kunst.

Leider war er mit seinen Räsonnements ziemlich erfolgreich. Der Text als Netz, als Teppich, als Gewebe von vielfach aufeinander bezogenen Motiven, diese ganze Leitmotiv-Durchtriebenheit scheint bis heute eine Idealvorstellung, nicht nur der Schreibenden, sondern vor allem der Wertenden und Erklärenden, der Kritisierenden und Interpretierenden geblieben zu sein.
Jemandem wie mir, der künstlerisch eher von der flatterhaften und herumsummenden, von Blüte zu Blüte taumelnden Art ist, muss eine solche Vorstellung vollkommen fremd erscheinen. Das bloße Aufeinanderbezogensein textlicher Elemente schafft doch noch keinen Sinn, keine Bedeutsamkeit, es gleicht einer simplen Ansammlung von Signalen. Einem Verweissystem. Geht es denn darum beim Dichten, geht es überhaupt um Sinnproduktion? Oder um Komplexität? Ist man denn Teppichknüpfer? Oder Kreuzspinne?
Komplexität, Zusammenhangsausmaß, motivische Verlinktheit sind für sich weder belehrend noch unterhaltend, weder rührend noch erhebend, weder sinnstiftend noch heilsam. Und selbst wenn jede Geste, jede Redensart, jede beiläufige Handlungsweise, jedes Kleidungsstück, jedes Accessoire etwas bedeutet, in dem es auf etwas anderes Verwandtes, Bezogenes, Zugehöriges verweist, wenn jedes Wort nicht nur das meint, was es besagt, sondern zusätzlich ein Signal, ein Hinweis auf etwas anderes, etwas Höheres, Späteres; Wichtigeres, Tieferes ist, selbst wenn alles auf alles ohne Rest bezogen ist, so ist damit noch kein Sinn hergestellt, sondern zunächst mal lediglich eine Struktur, ein textum, ein Gewobenes. Wenn das das Ziel und die „hochwertigste“ Form der Literatur ist, so sind wohl auch die Teppichknüpfer die Großmeister und maßgeblichen Autoritäten auf dem Gebiet der bildenden Kunst. Aber Thomas Mann verkennt sich und seine Könnerschaft selbst gehörig, wenn er wähnt, dass seine Größe auf seiner Knüpf- und Webvirtuosität gründe.

Die Wahrheit ist, dass Beziehungsreichtum ein Pseudo-Kriterium ist, ein Gütezeichen auf Basis nachträglicher Rationalisierung, und dass wir überhaupt nur äußerst diffuse und weiche, sagen wir ruhig: gefühlte Kriterien zur Beurteilung literarischer Gebilde haben … psychologische Tiefe, plastische, fesselnde Figuren, stimmungsvolle Szenerien, geistreiche Dialoge, … selbst die konkrete Handlung ist mehr oder weniger austauschbar, man kann eine Geschichte oft problemlos in ein anderes Zeitalter und auf andere Figuren transponieren, und irgendwelche Konstruktionsprinzipien und Fachfragen der Statik sind gewiss das Uninteressanteste an der Sache. Niemand begeistert sich für die Schönheit eines Bauwerks, indem er sich die Architektenpläne ansieht.
Es ist ähnlich wie mit den alten Meistern der Malerei … wir brauchen nichts von dem zu verstehen, was wir da abgebildet sehen, die Heiligen und Märtyrer, die Engel und Dämonen, Herrscher, Bürger, Ritter, Stifter, all die Symbole und Gesten, die vorausgesetzten Geschichten, die geheimen Verweise … Pacher, Dürer, Bosch, Burgkmair, Lochner, van Eyck, Grünewald, Memling, Altdorfer … die Bedeutungen ihrer Bilder, die Kalküle im Hintergrund gehen uns nahezu nichts mehr an, aber das Wie des Ausdrucks fasziniert, die kostbare Fremdheit, das Spiel aus Pigmenten und Phantasien, das dem Betrachter ein Mehr, ein Vielleicht, ein Doch, ein Jenseits eröffnet.

Und nochmal: Soll Kunst, soll der Roman denn sinnvoll sein? Interpreten suchen in der Regel, einem Text nachträglich innere Stimmigkeit zu verleihen, am besten einen zyklischen Aufbau festzustellen, Logiken und Kompositionsprinzipien zu unterlegen, in die sich die Ereignisse, Handlungen, Figuren irgendwie einordnen lassen. Aber dieses Stimmigmachen, diese Deutungskunst ist, eben, auch eine Kunst, ein Kunsthandwerk zweiter Ordnung, sozusagen. Jedenfalls keine Wissenschaft. Ein Zeitvertreib für Literaturdetektive. Und ein nie versiegendes Reservoir für Abiklausuren und Seminararbeiten.

Seltsam, dass sich auch und gerade professionelle Germanisten kaum im Klaren sind (oder kratzt es an ihrer Daseinsberechtigung, davon zu reden?), was eigentlich die Faszination und Attraktivität großer Literatur ausmacht. Es ist doch nicht der Knobelspaß beim Auffinden eines Ausdrucks A, der auf ein späteres Geschehen AA vorausweist, es ist nicht der investigative Erfolg bei der Entdeckung, dass die typische Eigenschaft B ihre Trägerfigur als Vertreter der Idee, des Motivs, des Themas BB kennzeichnet. Das wären geistige Befriedigungen auf dem Niveau von Logiktrainer-Heftchen, oder?

Dass wir die Werke Thomas Manns bewundern und lieben, liegt nicht an ihrem komplexen Motivgewebe, sondern an den wunderbaren, dem Leben abgelauschten Figuren, den dichten, farbigen, erlesenen Stimmungen, den kunstvollen, völlig unnatürlichen, aber trotzdem glaubhaften Dialogen, dem gepflegten, geschliffenen, kostbaren Sound, der ehrfurchtgebietenden Meisterschaft in der Handhabung der Stoffe, der seelensichtigen Durchdringung von Charakteren und ihren Handlungen, und vielem mehr. Alles was TM anfasst, wird zu einem Wunder an Beherrschtheit und freiem Gefunkel, an Majestät und Abenteuerverzicht. Also an Form.


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Das Schöne und Beruhigende und Erhebende an Stefan Georges Gedichten ist, dass sich nie die Frage stellt, was sie eigentlich bedeuten. Die gute alte, das heißt: die alberne alte Deutschunterricht-Frage: Was will der Dichter damit sagen? stellt sich nicht. Natürlich klingt vieles dunkel, aber nicht, weil es vorsätzlich verdunkelt und verrätselt worden wäre, es ist halt in dem Maße unverständlich, wie das bei einer fremden Sprache zu sein pflegt. George-Deutsch ist ein höheres Paralleldeutsch, man versteht es schon, wenn man sich anstrengt, etwa so wie beim Lesen frühneuhochdeutscher Texte. Es ist weder feuervergoldet noch vom Asphalt aufgelesen, weder von Ranken und Zweigen gepflückt noch aus der Gosse gefischt. Es ist einfaches und echtes Deutsch, gereinigt und gehärtet.

Die nervtötende Lehrerfrage nach der „eigentlichen Bedeutung“ stellt sich vielleicht bei Heinz-Rudolf Kunze oder Reiner Kunze oder irgendwelcher kunzig-kryptischer Dissidenten-Lyrik, die in altbekannten und wohlvertrauten Worten einen verklausulierten, codierten, verschlüsselten Sub- oder Paratext transportieren will. Und Generationen von armen Schülern müssen dann all die tiefsinnigen Puhdys-, Karat- und Silly-Lyrics mühsam rückübersetzen.

Bei George aber stehen einfach nur starke, hartgefügte, steinalte Kernworte. Selbst in den symbolistischen Anfängen gibt es – für den, der ein Sinnbild von einem Suchbild zu unterscheiden weiß – keine „eigentliche“ Ebene unter dem Enigma, es gibt keine „eigentliche“ Aussage, die der Autor hätte machen können, wenn er frei hätte sprechen dürfen. George darf frei sprechen. Und die meisten Dichter, Bänkelsänger und Songtexter, alle zumindest, die nicht gerade in einer Diktatur leben, könnten eigentlich ebenfalls frei sprechen. Aber sie sind eben nicht frei, weil sie in dem Wahn befangen sind, ein Gedicht müsse ein Rätsel sein.

Das ist ganz ähnlich wie beim Theater. Da meinen die Regisseure und Schauspieler auch immer, es müsse rumgeschrien werden, damit das ausdrucksstark und eindringlich sei. Deshalb finden fast alle Leute Gedichte doof und Theater bescheuert.

Die prätentiöse Behauptung eines Mehrwerts, die Simulation von mehr Sinn durch mehr Lautstärke oder mehr Bedeutung ist hier wie dort das Kennzeichen schwacher Kunst. Kunst will nicht bedeuten, sie will keinen Sinn herbeischreiben oder herbeischreien. Kunst schafft die Welt neu. Das ist alles.


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Da oben vom Ernstnehmen die Rede war:
Ich glaube, es war Egon Friedell, der über Lichtenberg schrieb, er gehöre zu jenen Genies oder Weisen oder abgeklärt-allbewanderten Humoristen, die wissen, dass letztlich nichts wirklich lohnt, ganz ernstgenommen zu werden.
Ich selbst bin – wie unschwer zu erkennen ist – weder Genie noch weise oder abgeklärt, aber ich hoffe, ich bin Humorist genug, um dem aus vollem Herzen zustimmen zu dürfen. Es gibt sicherlich Dinge, die müssen sehr ernst genommen werden. Aber „sehr ernst“ ist eben nicht „ganz ernst“. Es findet sich – und das ist gar nicht so angenehm für den Pathetiker, der ich nun leider auch bin –, es findet sich doch irgendwie in allem eine Spur zumindest von Komik, von absurder Witzigkeit, oder wenigstens von Lächerlichkeit.
Sich den Blick für diese Spur des Unernsten zu bewahren, ist für die praktische Lebenskunst vielleicht noch wichtiger als die Fähigkeit, an trostreiche Jenseitsmächte und Paradiese zu glauben, vor allem mit Blick auf die Königsdisziplin der Lebenskunst: die Sterbekunst.


Fortsetzung folgt …


 

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© Marcus J. Ludwig 2022
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