Apologie der Abgehängten (Teil 2)

Den politischen Affekten und Animositäten der Gegenwart liegt das Auseinanderklaffen von empirischer Realität und konstruierter Realität zugrunde. Die Menschen leben in verschiedenen Wirklichkeiten. Die eine ist erfahrungs- und gefühlsbasiert (auch die „gefühlte Wirklichkeit“ ist ja eine erfahrene Wirklichkeit), die andere gründet auf zurechtfantasierten Narrativen und moralistischen Wahnvorstellungen.


Was ein naturalistischer Fehlschluss ist, ist gemeinhin ungefähr bekannt. Man schließt irrtümlicherweise von einem Sein auf ein Sollen (oder auf ein Dürfen). Man leitet aus Tatsachen und Befunden ethische Regeln ab. Der Mensch hat ein Allesfresser-Gebiss, folgefalsch soll er also auch Fleisch essen, oder es zumindest dürfen.*

Weniger geläufig, aber wesentlich wirkmächtiger in den gegenwärtigen Diskursen ist der moralistische Fehlschluss**: Es soll etwas so und so sein, also ist es in der Realität auch so. Angewandtes Wunschdenken. Die ganze Gender-Sex-Klima-Islam-Nazi-Rassen-Identity-Diversity-(und jetzt auch noch Corona-)Debatte ist ein einziges großes Anschauungs- und Anwendungsgebiet für die Wirkweise des moralistischen Fehlschlusses.

Nazis sind das Böse schlechthin. Es ist gut, sie zu bekämpfen. Also muss es sie natürlich auch geben, damit man sie bekämpfen kann. Da es faktisch aber nur sehr wenige gibt, muss man nun überall welche ausmachen und ihnen ihr Nazitum nachweisen.

Es soll gerecht zugehen in unserem Land, es soll niemand benachteiligt werden. Wer sich für das Gute einsetzen will, muss genug Missstände aufspüren, gegen die er sich engagieren kann. Die Welt soll voller Opfer sein, also findet man sie auch. Und wenn man nicht genug Täter findet, dann findet man wenigstens „Strukturen“, die aus den Andersartigen, aus Fremden und Interessanten Opfer machen, Unterdrückte, Übersehene, Diskriminierte.

Man will einer von den Guten sein, also muss die Welt schlecht sein. Mindestens so schlecht, dass sich die leuchtenden Konturen des eigenen Charakters von dem dunklen Welthintergrund kontrastreich abheben.

Offen gestanden: Die Welt ist in der Tat schlecht. Und man wird schwerlich einen utopischeren Weltverbesserungsbefürworter finden als mich. Ich fürchte nur, dass meine „bessere Welt“ den regulären Moralist*innen nicht so richtig gut gefallen wird. Und letztlich ist es natürlich auch eine Frage der Gewichtungen. Man ist ja als Tierrechtler oft mit dem dümmlichen Einwand konfrontiert, man solle sich doch lieber um hungernde Kinder kümmern als um Tiere. Das ist aus tausend Gründen dümmlich, don’t get me started … aber andersherum kann man halt schon überlegen, ob man seine moralische Energie nicht besser in den Kampf gegen den zigmilliardenfachen Tiermord, gegen die massenverelendende Überbevölkerung und gegen das Absterben der abendländischen Kultur investiert, statt Sanitäreinrichtungen für ein paar Männer zu erstreiten, die sich gern falsche Wimpern ankleben. Ich mein, von mir aus kann es gern in jeder Waldgaststätte ein drittes Klo geben, aber, nun ja, mir erscheint die Sache mit den Schlachthöfen, den Legebatterien und den verätzten Kaninchenaugen irgendwie dringlicher. Vielleicht bin ich da zu konservativ …

Wieso aber sollten nun ausgerechnet „die Abgehängten“ die Welt realistischer sehen? Gute Frage. Deren Beantwortung ich kurz zurückstellen muss, um nach den ganzen Abschweifungen des ersten Teils nun auch diesen zweiten Teil mit Abstechern ins scheinbar Zusammenhangslose anzureichern:


Exkurs: Aufbau der politischen Seele

Der Mensch als Zoon politikon steht zu der ihn umgebenden Welt in einer dreigeteilten Beziehung. Ähnlich wie es psychoanalytische Instanzenmodelle für den Gesamtmenschen – bestehend aus einem triebhaften Tierkörper und einer beziehungs- und balancebedürftigen Geist-Seele – aufzeigen, so scheint auch der politische Mensch aus Es-, Ich- und Über-Ich-artigen Schichten aufgebaut zu sein. Nun ja, wie sollte es auch anders sein?


Weltgefühl 

Auf mehr oder weniger unbewusster Ebene sehen wir ein Wesen, das in einem kaum erklärbaren und kaum zu ändernden Weltgefühl lebt. Dies kann bestimmt sein von den unterschiedlichsten emotionalen „Farben“, „Temperaturen“, „Geschwindigkeiten“, „Aggregatzuständen“: Ohnmacht, Sehnsucht, Heiterkeit, Zutrauen, Mangel, Fremdheit, Impulsivität, Erfahrungshunger, Offenheit, Introversion, Schutzbedürftigkeit, „Weltbehagen“ oder Melancholie wirken von hier aus in jedes Erleben hinein wie ein Wetter oder eine Musik.

Auf dieser Ebene ist der Mensch nahezu irreversibel geprägt, biologisch und biographisch. Die Gene und die ersten Lebensjahre bestimmen den Charakter vielleicht nicht völlig, aber mindestens stimmen, manchmal verstimmen sie ihn. Wenn der Erwachsene sich als politisches Wesen entdeckt, ist es definitiv zu spät, um etwa aus einem Pessimisten noch einen Optimisten zu machen. Alles, was er sieht (Weltanschauung), und alles, was er wünscht (Weltideal), wird unabänderlich von seinem Weltgefühl beleuchtet, eingefärbt und gestimmt sein.
Ein Großteil aller Diskussionen scheitert schon an dieser Grundverschiedenheit der emotionalen Dispositionen. „Aber so ist die Welt doch nicht!“, ruft der eine. „Aber so sind die Menschen nun einmal“, ruft der andere.

Und in diesem „Aber“, in diesem „Doch“, in diesem „Nun einmal“ liegt die ganze Unüberbrückbarkeit, dieses ganze Einandernichtverstehenkönnen, welches die Menschen wenigstens zur Kenntnis nehmen müssten, soll ein Gespräch nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt sein.


Weltanschauung

Die Weltanschauung ist eine doppelsinnige Sache, sie bezeichnet die Tätigkeit des schauenden oder sonstwie wahrnehmenden Bewusstseins ebenso wie das Ergebnis dieser Tätigkeit. Wir haben es mit einer Weltbetrachtung zu tun, deren Resultat ein Weltbild ist. Von diesem Weltbild ist wiederum nicht immer klar zu sagen, ob es ein „photographisches“, also ungefähr objektiv-realitätsgetreues Abbild ist, oder eher einem subjektiv geschauten und daher irgendwie impressionistischen, expressionistischen oder sonstwie stilisierten Gemälde ähnelt.

Jedenfalls ist die Weltanschauung eine bewusste oder doch mindestens bewusstseinsfähige Angelegenheit. Man kann sich also prinzipiell darüber unterhalten und verständnisvoll austauschen, ob es das gibt, was wir betrachten, oder ob es das nicht gibt. Ob der andere das auch sieht, oder ob nur wir das sehen. Ob es zum Beispiel Nationen gibt, ob es Rassen gibt, ob Tiere leiden können, ob es Männer und Frauen gibt, ja sogar ob es Gott gibt – das sind Fragen, über die man reden kann, vorausgesetzt, die Redenden sind bereit, die Welt weiterhin genau anzuschauen, die Augen offen zu halten und sich nicht mit dem einmal Geschauten, dem einmal momentweise Abgelichteten für immer zu begnügen.

Das aber ist leider ganz und gar nicht selbstverständlich. Im Gegenteil, die meisten Weltanschauer bequemen sich mit einem irgendwann einmal als einleuchtend empfundenen Bild und wollen dann nichts anderes mehr sehen. Diese Bequemlichkeit, diese Weigerung, die unendlich komplexe und widersprüchliche Welt (und sich selbst darin, samt dem eigenen Weltbild) weiterhin anzuschauen, kritisch und neugierig anzuschauen, ist die intellektuelle Todsünde schlechthin. Wer Augen hat zu sehen, aber nicht mehr sehen will, der ist ein Feigling oder ein verbohrter Fanatiker, ein Fälscher und Frevler, jedenfalls ein Nichtswürdiger im Reich des Geistes, und hat kein Recht mehr mitzureden. Gäbe es Gefängnisse für intellektuelle Gewohnheitsverbrecher, für organisierte Geisteskriminalität, für skrupellose Gelehrsamkeitsganoven, sie wären voll mit Journalisten, „Kulturschaffenden“ und Gefälligkeitswissenschaftlern.

Der offene, freie, um Redlichkeit bemühte Geist hat allzu oft nur noch die Wahl, auf welche Weise er lieber den Verstand verlieren will: In der Auseinandersetzung beispielsweise mit einem Rassisten oder einem Rassenleugner. Der Rassist erkennt rassische Unterschiede zwischen den Menschen, aber er hasst alles, was anders ist als er selbst. Der Rassenleugner will niemandem etwas Böses, aber er meint gerade deshalb bestreiten zu müssen, dass es so etwas wie Rassen überhaupt gibt, und muss denen, die diese Rassen dennoch sehen, dieses Sehen verbieten.

Ich habe manchmal das besorgniserregende Gefühl, dass ich eher einen Rassisten als Nachbarn ertrüge als einen Rassenleugner. Ich glaube, den rassistischen Vollpfosten könnte ich mit ganz viel Geduld irgendwie noch therapieren. Die Professorin für Postcolonial Diversity Dingsbums muss aber wahrscheinlich als unrettbar verloren gelten.


Weltideal

Wie soll die Welt sein? Das ist die Kardinalfrage aller politischen Positionierung – sofern man sich nicht mit bloßer Dressur oder unreflektierter Gewohnheit zufriedengeben will. Sie ist also final, vom Ziel her, bestimmt. Der politisch erwachende Mensch schaut die Welt an und sieht in der Regel, dass sie nicht so ist, wie sie sein sollte. Also will er sie anders machen, besser machen, so machen, wie er sie sich optimalerweise vorstellt.

Diese Vorstellung ist sein Weltideal. Es gibt seinen Wünschen und Hoffnungen die Richtung, immer allerdings begleitet und bedroht von der düsteren Negation, die aus der Utopie eine Dystopie macht. Die Entmutigung durch unerfüllbare Ideale kann sich bekanntermaßen noch motivierender, noch treibender, noch furioser ausnehmen als jede positive Wunschvorstellung. Der gescheiterte politische Aktivist, der einsehen muss, dass zu seinen Lebzeiten keiner von seinen hohen Plänen verwirklicht werden wird, der Idealist, der befürchten muss, dass die Menschheit für alle Zeit in die falsche Richtung gehen wird, ist der Idealtyp des geistigen Extremisten. Da sich diese Enttäuschungsprozesse naturgemäß in fortgeschrittenem Alter, bei beginnender Arthrose und Sarkopenie vollziehen, fehlt ihm zumeist die Kraft, noch real, körperlich, aktivistisch um sich zu schlagen und die Welt zu Klump und Kleinholz zu kloppen. Mutter Natur ist eine weise Frau.

Auch auf der Ebene des Ideals lässt sich durchaus streiten und argumentieren. Zwar ist so ein Ideal stärker noch als ein Weltbild beeinflusst durch das grundlegende Weltgefühl, aber seinem Wesen nach ist es eine sprachlich gut fassbare Phantasie, ein rational handhabbarer geistiger Gegenstand. Man kann mit einiger Vernunft und Urteilskraft Verständigung darüber erzielen, ob diese oder jene Vorstellung von einer idealen (oder zumindest besseren) Welt möglich ist, ob eine Utopie erstrebenswert und realisierbar ist, unter welchen Bedingung dies oder das so kommen könnte oder auch nicht.

Es ist ein Kennzeichnen einer blühenden Kultur, dass sie eine funktionierende Öffentlichkeit hervorbringt, in der die maßgeblichen Geister zwanglos in solche Verständigungsprozesse eintreten können, deren Ton das gesamte gesellschaftlich-politische Klima weitet, durchlüftet und aufhellt.

Das Gegenteil einer solch blühenden, lebendigen Kultur ist eine konstruierte Scheinkultur mit einem künstlichen, nach moralistischen Sollwerten kalibrierten Klima, in dem echte Menschen kaum mehr atmen können.

Wenn die Gatekeeper der Res Publica die Gutwilligen und Gedankenvollen draußen halten und dem tugendterroristisch-sozialkreationistischen Gelichter die Schlüsselgewalt über Regieräume und Redaktionsstuben überantworten, dann läuft irgendwas grundfalsch.


Assis oder alternative Elite?

Und nun noch eine klärende Abschweifung: Wer sind denn jetzt die Abhängten? Sind es „die Assis“ oder ist es „die alternative Elite“?

In den Augen des gegenwärtig herrschenden politmedialen Relevanzadels*** besteht da wohl kein gar so großer Unterschied, und vielleicht sollten die Abgehängten selbst auch keinen Unterschied machen, oder zumindest vorerst und phasenweise großzügig über die (zweifellos vorhandenen) Unterschiede hinwegsehen, stattdessen das Verbindende betonen. Was ist das Verbindende zwischen all den Aldi-Habitués, den gefrusteten Kleinstspießern und den philosophischen Realitätsfanatikern, zwischen Schrebergarten-Aggros und Studierstuben-Rebellen, zwischen den Vorletzten und den Letzten? Es ist das an Gewissheit grenzende Gefühl: dass die Welt anders ist, als uns zu glauben nahegelegt, eingeflüstert, eingetrichtert, aufgezwungen wird.

Die „einfachen Leute“ (ich glaube, ich darf so reden, denn ich komme aus deren Milieu, und ich habe nie aufgehört, im Alltag abseits der Literatur ihre Sprache zu sprechen), die einfachen Leute haben kaum so etwas wie ein Weltideal, vielmehr haben sie vor allem eine konkrete (und gar nicht so leicht zu manipulierende) Anschauung von der Welt, ja, man muss sogar vermuten, dass sie in großen Teilen nicht mal eine „Welt“ haben (oder, so sie doch eine haben, sich nicht groß um sie kümmern), sondern nur eine „Umwelt“. Was übrigens kein Nachteil sein muss. Meiner Beobachtung nach sieht es jedenfalls so aus, dass die Realität der „Abgehängten“ sich aus ihrer ganz konkreten „Umweltanschauung“ speist, was hier und da wohl zu restringierten und unterkomplexen, gerade deshalb aber lebensnahen und praxistauglichen Resultaten führt.

Wenn der Möbelpacker mir zwischen Kommode und Klavier erklärt, es gibt Männer und Frauen, und ein Mensch hat einen Vater und eine Mutter, und wer seine Mutter als „gebärfähigen Körper“ bezeichnet, der wird unter „Möbelpacker*innen“ wahrscheinlich keine Beliebtheitsrekorde brechen – dann sehe ich auf dem Antlitz des Universums einen eindeutig höheren Grad an Zufriedenheit lächeln, als wenn ein LGBTQ-Journalist mir zwischen Judith-Butler-Gesamtausgabe und Bundestags-Drucksache 19/26980**** die Dringlichkeit einer Quotenregelung für queere Querflötisten in äquatorialguineischen Orchestern erklärt.

Die Realität der herrschenden Pseudoelite ist ein buntes Gewölk aus Gefühlen und Idealen, mit einem großen weißen Vakuum in der Mitte – da nämlich, wo das Ich sitzen und sich einfach nur in Ruhe umsehen müsste. Man sollte die Parallelisierung mit der psychoanalytischen Krankheitslehre nicht überreizen, aber der landläufige Neurotizismus betrifft halt eher selten den schlicht-gesunden Handwerker und Tatmenschen, der sich über seine Ich-Stärke keinerlei Gedanken macht, einfach weil er in seiner Bodenständigkeit – seiner „Realitätsständigkeit“ – gar nichts von ihr weiß.

Umso häufiger erkranken – wie zu Freuds Zeiten – die vergrübelt-reflexiven, sensitiv-verästelten Charaktere, bei denen zwischen einem Es voll niedergehaltener Triebe, Emotionen und Sehnsüchte und einem himmelhohen Über-Ich voller Ideale und Skrupel, hehrer Normen und böser Gewissensnöte erschreckend oft nichts ist. Nichts. Kein Ich, kein Realitätssensorium, keine Instanz in Fragen des Wirklichkeitsabgleichs, nur ein Hohlraum, in dem neurotische Kompromisse und Wahngebilde ein Leben lang vor sich hin faulen.


Bürger werden

Diejenigen, die von Plasberg und Co. als „Abgehängte“ (immer natürlich mit dem Zusatz: „schreckliches Wort!“) bezeichnet werden, sehen die Realität ungefähr so wie sie ist, gelegentlich vielleicht zu holzschnittartig, aber doch einigermaßen entlang der empirischen Faktenlage.

Sie sehen – ich bleibe mal bei dem Beispiel –, dass es zwei Geschlechter gibt, männlich und weiblich. Dass es kein drittes oder viertes oder sechzigstes Geschlecht gibt. Sie wissen schon auch – sie sind ja nicht blind –, dass es Abweichungen von der Norm gibt, dass es vereinzelte Menschen gibt, deren Geschlecht nicht ganz eindeutig bestimmbar ist, dass es Exoten gibt, dass Launen der Biologie Zwitter verschiedensten Grades hervorbringen. Und dass tragische Biographien dazu führen, dass Menschen bezüglich ihrer Geschlechtsidentität irgendwie aus dem Konzept geraten. Sie sind imstande, das je nach Lage der Dinge als harmlosen, interessanten Defekt oder als schwere psychische Störung einzuordnen. Und sie wissen trotz jahrelanger Diversity-Propaganda immer noch, dass es sich hier nicht um „Vielfalt“ handelt, nicht um den natürlichen oder kultürlichen Reichtum menschlicher Daseinsformen, sondern um mehr oder weniger bedauernswerte Einzelschicksale und vor allem um zivilisatorische Stilblüten, Exzesse und Exaggerationen, die je nach Laune des Zeitgeistes unterdrückt oder begrüßt, geleugnet oder gefeiert werden. Sie nehmen das möglichst gelassen zur Kenntnis und versuchen dann, sich auf Wichtigeres zu konzentrieren.

Während allerdings die „einfachen Abgehängten“ nie groß in Gefahr sind, den Kontakt zur Realität zu verlieren, muss die „alternative Elite“ meist einen ziemlich umständlichen Umweg gehen. Wer einmal mit der Weltbezweiflung anfängt, macht sich nun mal das Leben schwer, oft unnötig schwer, aber wenn er durchhält und den Weg zu Ende geht, findet er mit ein wenig Glück zurück zur Realität der einfachen Leute, zu einer vielleicht sogar geläuterten und gehärteten Realität. Er hat dann im Gegensatz zur Pseudoelite in einer Art politischen Psychoanalyse sein Über- und sein Unter-Ich durchschaut und gezähmt, hat die Hunde im Souterrain an die Kette gelegt ebenso wie die Hirten und Heiligen im Penthouse.

Oder für Metaphernmuffel: Der selbstkritische, um Wahrhaftigkeit und innere Widerspruchsfreiheit sich mühende Mensch überlässt sich weder seinen vorpolitischen Gelüsten und Trieben, noch folgt er den allgemeinverbindlichen Konventionen und Imperativen des metapolitischen Zeitgeistes. Das heißt, er ist Realist, er ist ein politisch verantwortlicher Erwachsener, er ist ein Bürger geworden. – Übrigens rede ich bei alledem (leider) nicht von mir selbst.


Reale, respektable Sachen

Ja, es gibt durchaus pathologische Homo- und Transenhasser, die gern alles vergasen würden, was nicht straight und eindeutig ist. Die meisten Abgehängten aber, die meisten, die sich von der Wahnwelt der sechzig Geschlechter und der Glorifizierung operativer Genitalangleichung abgekoppelt haben, sind einfach nur genervt von der dauernden Übergriffigkeit der politmedialen „Fortschrittskräfte“, die sie mit einer „Realität“ behelligen, welche vor allem dadurch entsteht, dass sie rund um die Uhr aggressiv und penetrant präsentiert wird.

In dieser Realität ist die Welt voll von Menschen, die missachtet, ausgegrenzt und fertiggemacht werden wegen ihrer so verkannten, so überaus wertvollen Andersartigkeit. Man zeigt uns lauter Gemobbte und Entrechtete, die um Anerkennung ringen, um Beachtung, um Würdigung ihres Schicksals. Und bestehe ihr Schicksal auch bloß darin, dass sie sich gern schrill schminken und mit Federboas umwickeln. Und dass sie darob hin und wieder irritiert angeguckt werden. Und immer gefragt werden, wo sie denn „eigentlich“ herkommen. – Äh, nee, das waren die andern, die mit den schwarzen Locken …

Ein von mir sehr bewunderter homosexueller Schriftsteller schrieb mal, dass das Hauptproblem seiner Schulzeit keineswegs darin bestanden habe, dass er der einzige Schwule in der Klasse war, sondern dass er das einzige Arbeiterkind unter lauter betuchten Akademikern war. Ich bin zwar – sofern ich das nach fast fünf Jahrzehnten beurteilen kann – nicht schwul, aber ich kann aufgrund anderer Defekte einigermaßen nachvollziehen, was es bedeutet, der mehrfach „Andere“ unter all den „Normalen“ zu sein. Ich halte mich daher für halbwegs berechtigt, denen, die sich angesprochen fühlen, folgende Anregung zu unterbreiten:

Man kann wohl seinen Lebensinhalt darin finden, Akzeptanz für seine diversen Devianzen (oder die seiner Mitmenschen) zu erzwingen und ausgleichende Anerkennung für erlittene Diskriminierungen zu fordern. Man kann versuchen, die Sphäre komplizierter menschlicher Interaktionen durchzupolitisieren und durch Regeln unter Kontrolle zu bringen. Durch Sprachregeln, Quotenregeln, Betroffenheits- und Übersetzungskompetenzregeln, Comedy- und Karnevalskostümierungsregeln. Kann man machen.

Man kann aber auch ohne Regelung den Respekt seiner Mitmenschen erwerben, indem man ganz real respektable Sachen macht: gutes Brot backen, Baumarktkunden kompetent beraten, ein fähiger Tierarzt werden, trostreiche und tanzbare Lieder schreiben, Kindern logisches Denken beibringen, Haare schneiden, Altstädte rekonstruieren, Zeitmaschinen erfinden. So was. Oder irgendwas anderes. Und dann mal gucken, ob man sich immer noch so diskriminiert fühlt, wie all die Politiker und Experten und gemeinnützigen Vereine einem das immer eingeredet haben, all diese Lobbygruppen, die davon leben, dass Menschen sich in Opferidentitäten einrichten. Realistische Rückschlüsse ziehen statt moralistischer Fehlschlüsse. Ist vielleicht einen Versuch wert.

(Fortsetzung folgt)

* Der Mensch hat kein Allesfresser-Gebiss, aber die Fleischfreunde behaupten das gern. Das menschliche Gebiss ähnelt in Wahrheit viel stärker dem von früchteverzehrenden Affen. Aber auch daraus könnte man wiederum nicht ableiten, dass Homo Sapiens nur Früchte essen soll. Die Natur gibt uns keine Antworten auf ethische Fragen.

** Der klassische moralistische Fehlschluss findet Ausdruck in Christian Morgensterns Formulierung, „dass nicht sein kann, was nicht sein darf“; mir geht es hier um das psychologisch noch etwas anspruchsvollere Phänomen, „dass unbedingt sein muss, was sein soll“.

*** Es gibt den „normalen“ Adel, also den Geburts- oder Erbadel. Außerdem kennt man den Geldadel, den Verdienstadel, den Geistesadel und in lyrisch-empfindsamen Kreisen sogar den Seelenadel. Das sind informelle Quasi-Nobilitierungen aufgrund exzeptioneller Erfolge oder sonstiger Erstrangigkeiten. Beim Relevanzadel geht es hingegen nicht um Abstammungslinien, um das Bankkonto oder den menschlichen Innenraum, sondern eben um die Bedeutsamkeit, die dem zugemessen wird, was man so sagt. Es gibt hier kein Kriterium außer der reziproken Beglaubigung. Karl Lauterbach und Markus Lanz bestätigen sich gegenseitig ihre Relevanz, einfach indem sie sich andauernd öffentlich unterhalten.

**** Antrag der Fraktion DIE LINKE, betitelt „Für das Leben – Das Recht auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung sichern, reproduktive Gerechtigkeit ermöglichen“, hier nachzulesen:
https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/269/1926980.pdf

 

 

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© Marcus J. Ludwig 2021.
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