Apologie der Abgehängten (Teil 1)

Das Problem der Gegenwart ist nicht die Informationsüberflutung, sondern die Meinungs- und Moralüberflutung. Nicht die Komplexität der Wirklichkeit macht die Leute wütend und wahnsinnig, sondern die interessengeleitete Interpretation der Wirklichkeit.

Wer von „Abgehängten“ spricht, hat offenbar die Vorstellung von einer Art Wagenkolonne im Kopf: die Geschichte als Treck und Tross, als Zug und Eisenbahn; es gibt vorn die Lokomotive der Fortschrittskräfte, der Leistungsträger und Funktionseliten, und dahinter reihen sich diverse Waggons für die große mitfahrende Masse der vertrauensseligen Passagiere, die alle zusammen auf den Gleisen der historischen Notwendigkeit – über die eine oder andere Weiche des Zufalls – ihrem Zielort, dem seligen Ende der Geschichte, entgegenfahren. Je nach ideologischer Vorliebe der Lokführer kann dieses Ziel immer mal ein wenig anders aussehen, momentan heißen unsere Destinationen: „Große Gleichheit“ und „Totale Gerechtigkeit“.

Begleitpersonal gibt es natürlich auch, korrekt gekleidete und korrekt sprechende Ansager, bestens geschulte Betreuer, sorgsame, sensible, zuweilen auch gestrenge Aufpasser, humorvolle Animateure, die Infos durchsagen, Kursänderungen durch unvorhergesehene Ereignisse übermitteln und regelmäßig Kontrollgänge durch die Abteile machen, um nach dem Rechten zu sehen. Auf ihren Namensschildchen stehen Phantasiebezeichnungen wie etwa Kleber, Gerster, Restle, Welke, Reschke, Becker, Stempfle, Theveßen,* Plesberg, Ellner, Bettenger, Eegsteen, Bleme, Mescele, Meeschberger, Yegeshwer, Feldenkerchen oder so ehnlech.

Und nun kommt es vor, dass hin und wieder ein Waggon abgehängt wird – huch, wie das? Haben die sich selber abgehängt, diese komischen Leute aus dem hintersten Wagen? Wurden sie abgehängt, weil sie eh irgendwie nutzlos waren und im Grunde nur mitgeschleppter Ballast, der an jeder größeren Steigung zu Schwierigkeiten führte? Wie auch immer, jetzt bleiben sie halt zurück auf dem Gleis, ihr Wagen trudelt langsam aus, wird irgendwann stehenbleiben, vielleicht wieder ein Stück zurückrollen auf den geschichtlichen Schienen … aber so ist das, wenn man mental nicht mitkommt, wenn man im hintersten Abteil versackt und den Blick immer wehmütig-verbittert zurückrichtet auf die Landschaft, die man gerade hinter sich lässt, während alle anderen freudig und reisefiebrig nach vorn sehen – oder ruhig schlafen, was wohl ohnehin das Beste ist. Und so reißt der Kontakt zu den Zugkräften und der Mitte der mitfahrenden Gesellschaft irgendwann ab, innerlich und äußerlich.

 

Die Letzten und die Vorletzten

Man darf sich so ein Bild nicht allzu genau ansehen, aber es scheint für viele der Realität hinreichend zu ähneln, deshalb hält es sich wohl auch so hartnäckig, das Gerede von den Abgehängten. Es verträgt sich auch so schön mit der Vorstellung von einem verstockten Pack, das es nicht besser weiß, nicht besser will – und sich wohl auch kein Ticket für einen besseren Platz im Zug leisten kann. Arm, dumm, böse – so stellt man sich gern die Abgehängten vor, die dann ja wohl irgendwie auch zu Recht abgehängt sind. Und genau solche deplorablen Exemplare picken sich unsere medialen Zugbegleiter immer zielsicher heraus, wenn es darum geht, O-Töne und affirmativ-abschreckende Bilder einzufangen, von Corona-Demonstranten, Pegida-Spaziergängern, AfD-Sympathisanten und krud-verqueren Querulanten, Leuten, die nicht mehr mitkommen mit den modernen Entwicklungen, die den Fortschritt blockieren, weil sie Angst vor Windrädern und Funkmasten und Afrikanern haben, weil sie einfach voller Hass sind auf alles, was sie nicht verstehen, weil sie in ihrem Schrebergarten sitzen wollen und Billigfleisch grillen wollen und Lidl-Bier trinken wollen und Merkel töten wollen und Ausländer und Tunten in KZs stecken wollen. Aber jeden Monat Stütze vom Staat kassieren, das können sie, die Abgehängten …

Ich mein: Solche gibt es natürlich, es gibt dieses tarnfarbene Prekariat, das in einer Mischung aus multiplen Vermittlungshemmnissen: Lebens-Pech, Unbildung, Trägheit, Raucherhusten, Ressentiment, Adipositas, Talentlosigkeit vor sich hinbrütet und von der Rückkehr des Führers träumt. Oder einfach nur von mehr Bier.

Aber das sind eigentlich nicht die Leute im letzten Wagen, sondern die im vorletzten. Das Problem der Letzten ist eher nicht, dass sie abgehängt wären, sondern ganz im Gegenteil: dass sie angehängt bleiben und weiter mitgezogen werden in eine Richtung, in die sie gar nicht wollen, dass die Lokführer vorn aber so tun, als wären sie abgehängt, als wären sie gar nicht mehr da.

Anfangs haben sie noch aus ihrem hintersten Waggon nach vorn gerufen und gestikuliert, dass der Zug in die falsche Richtung fährt, ja, dass der Zug sich zuweilen schon gar nicht mehr auf den Gleisen befindet, sondern über Stock und Stein, über Sand und Sumpf rollt … aber sie haben mittlerweile mitbekommen, dass es aussichtslos ist, dass man sie nicht hören wird, weil man sie wohl nie auch nur hören wollte, und so haben die meisten von ihnen aufgehört zu schreien und zu winken. Sie haben sich hingehockt, sie pfeifen vor sich hin auf ihrer unfreiwilligen Fahrt und warten auf den Moment, da der Zug zum Stehen kommt und die Positionen getauscht werden. Die Mitfahrer in der großen, langen Mitte werden dann auch merken, dass man sie – Smartphone- und Serien-sediert wie sie waren – in ein unwirkliches Niemandsland geführt hat, und dann werden die Hintersten, die es schon immer gesagt haben, die Vorderen aus ihrer Lok schmeißen und den Karren aus dem Dreck ziehen müssen.

 

Die Lagerfeld-Simulation

Aber genug. Bevor das Gleichnis endgültig mehr vernebelt als es veranschaulicht, schalte ich – auch auf die Gefahr hin, in einen Topf mit den Schrebergarten-Faschos geworfen zu werden – lieber mal um auf Klartext, und der lautet:

Ich bin einer von diesen „Abgehängten“ oder als „abgehängt“ Titulierten. Ich komme nicht mehr mit mit den Entwicklungen meiner Zeit, ich verpasse die Trends, verweigere mich den Sprechweisen und Moden, ich bleibe auf Distanz zu den Verlockungen des Zeitgeistes, die Ideen und Projekte des globalistischen Massenmenschenmodernismus lehne ich ab, ich kann in den meisten derzeitigen Veränderungen und Umgestaltungen, Reformen und Transformationen keinen gelungenen Fortschritt erkennen, ich wäre eher für den einen oder anderen Rückschritt, mich interessiert auch schlichtweg kaum irgendetwas von dem, was der zeitgemäße Mensch, das medial formatierte Mitglied der Wertegemeinschaft, der zweckmäßig zugerichtete Konsument für den Inhalt seines Daseins zu halten sich angewöhnt hat: hundertmal pro Tag sich selbst oder sein Essen zu fotografieren, im Minutentakt Nachrichten mit fünf Emojis pro Satz zu versenden, Haltung und Gesicht „gegen rechts“ zu zeigen, immer die gleichen Sätze der Saison zu sagen („wie geil ist das denn?“, „ich bin fein damit“, „ich feier das voll“, oder so was), Merkel für eine Wissenschaftlerin zu halten, Chris Tall lustig zu finden, am Strand posierenden Trullas auf Insta zu followen, Schulen mit Tablets zu bestücken und zu meinen, das sei Digitalisierung, das Sprechen mit Sternchen-Gestotter zu verzieren, zu glauben, dass jeder alles werden kann („is so“), den Tag mit Sat1-Frühstücksfernsehen zu beginnen, Bargeld, Atomkraft, Rassen, Grenzen, Viren und Grundrechte abzuschaffen, Frauenfußball und Formel-1 für übertragungswürdigen Sport zu halten, das Klima zu einem Gegenstand religiösen Fanatismus‘ zweckzuentfremden, etc.

Ich schätze, mit solch vielseitigem Desinteressement gehört man ungefähr zur Gruppe derjenigen, über die Leo Di Caprio neulich irgendwo urteilte: „You are not part of the modern world.“

Na, dann halt nicht. Vielleicht muss man das als eine Art Auszeichnung auffassen. Dafür spricht jedenfalls, dass die beiden gutgebräunten und bestens frisierten linksintellektuellen Trendchecker Richard David Precht und Harald Welzer wenigstens mit Smartphones und Social Media auch nix am Hut haben.

Wenn es um die ganz alltäglichen und konkreten Dinge des Lebens geht, ist es zuweilen ratsam, sich einfach mal die gute alte Ein-Fisch-namens-Wanda-Frage zu stellen: „Was würde Plato tun?“ Und sie je nach Präferenz mit weiteren geschmackssicheren Gewährsleuten anzureichern: Was würde Nietzsche tun? Was würde Thomas Mann tun? Was würden Heinrich Heine, Fontane, Hermann Hesse, Stefan Zweig oder Stefan George tun?

Würde Nietzsche bei Let’s Dance, Dschungelcamp oder Maischberger mitmachen?
Würde Zweig mit Alexa oder Siri oder Cortana sprechen?
Würde Thomas Mann seine Elektropost mit LOL-Smileys verzieren?
Würde Fontane Baseballkappen, Flipflops und Shirts mit Katzengesichtern tragen?
Würde Hermann Hesse einen Friedensnobelpreis für Black Lives Matter unterstützen?
Würde Stefan George Aufrufe von „Kulturschaffenden“ gegen „Hass und Hetze“ unterschreiben?
Würde Heinrich Heine mit Gender-Gap dichten?
Würde Plato bei Facebook und Twitter rumlungern?
Nicht ganz so spekulativ: Was würde Karl Lagerfeld tun? Der große unmoderne Modeschöpfer war ja vor Kurzem noch unter den Lebenden und begründete bei der Gelegenheit seine vorsätzliche Smartphone-Ignoranz mit dem unsterblichen Satz: „Telefone sind was fürs Personal.“ Exakt so ist es. Und ich darf hinzufügen: All die, die den ganzen Tag mit ihren Telefonen zugange sind und all den anderen Modern-World-Kram machen, sollten sich vielleicht mal überlegen, wessen Personal sie eigentlich sind.

 

Geiler als Gott

Die Entzauberung der Welt, die Max Weber vor gut hundert Jahren als Folge einer stetig fortschreitenden Rationalisierung und Intellektualisierung konstatierte, stellt sich bei heutiger Besichtigung der Verhältnisse fast als Luxusproblem dar. Ein Wehwehchen, gewissermaßen ein kosmetischer Makel in der Mentalitätsgeschichte. Ja, es war alles mal schöner für den Menschen, einfacher, stimmiger und stimmungsvoller. Etwas Sagenhaftes, eine Atmosphäre von Unheimlichkeit und Zutraulichkeit lag über dem Sein. Die Menschen waren Kinder Gottes, die Welt war nach seinem Willen geordnetes Schicksal, mit allen Wundern, die dazugehörten, mit aller Ehrfurcht und aller psychisch stabilisierenden Ergebenheit, die die Unergründlichkeit des Großen und des Ganzen fordert. Solche Ergebenheit war Freiheit, von der wir heute nichts mehr wissen, kaum die Kinder erleben heute noch dieses Aufgehobensein, diese himmlische Verantwortungslosigkeit, die aus der existenziellen Bescheidenheit, dem natürlichen Götterglauben, der unhinterfragten Beseeltheit von allem kommt.

Es gibt eine Art Schönheit, die aus solcher Dummheit sich gebar, es gab eine Stimmigkeit, eine Ansehnlichkeit, die sich aus solch rührender Zurückgebliebenheit speiste. Der Mensch, der nicht mehr sein will als ein Tier, das sein Dasein zuweilen mit Gesang und Tanz und staunender Sehnsucht nach den Sternen veredelt, ist einigermaßen in Einklang mit der Ausstattung, die die Evolution ihm angediehen hat. Die Probleme fangen an, wenn er zu viele Fragen stellt und kritisch wird.

Ein Äpfelchen vom Baum der Erkenntnis mag hier und da in Ordnung gehen, einfach damit man nicht ganz im Zustand paradiesischer Verblödung verbleibt. Damit man evolviert und sich zuweilen wundert über die Schönheit der Welt, über den gestirnten Himmel und die seelischen Sensationen im eigenen Innern. Damit man in den Spiegel sieht und sich erkennt als „missing link“ zwischen Affe und Mensch. Aber Homo sapiens schickte sich irgendwann an, seine Apfelbäume selbst zu pflanzen, er rodete das Paradies und legte ganze Erkenntnisobst-Plantagen an, um sie gewinnbringend, das heißt geschichtsoptimierend und menschheitsbeglückend zu bewirtschaften. Äpfel für alle! Äpfel in Massen, größer, süßer und saftiger als alle metaphorischen Bibelfrüchte! Esst davon, und ihr werdet sein wie Gott! Vielleicht sogar geiler als Gott! Cooler und smarter auf jeden Fall, kreativer und bunter. Und vor allem präziser und strukturierter und widerspruchsfreier. Denn, mal ehrlich, was dieser Gott hier auf Erden fabriziert hat, ist ein ziemlich chaotischer Haufen Mist, oder? Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht. Und göttlich gemeint ist, wie man sieht, auch kein Garant für Qualität.

So entzaubert die Wissenschaft die Welt, und was bleibt, ist die nackte Realität: Technik, Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Organisation, Struktur, Staat, Vertrag, Gesetz, Geld, Plan, Bilanz, Experiment, Reiz und Reaktion, Ursache und Wirkung, Evaluation, Effizienz, Optimierung.

Schade. Der Romantiker seufzt, der Nostalgiker verdrückt eine Träne angesichts der guten alten Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat und die Sehnsucht des Poeten noch Frauenherzen rühren und zum Raffen der Röcke verführen konnte.

Das – etwas freihändig ausgeschmückt – war ungefähr die Situation, die Max Weber erkannt hatte: „daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe […], daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne“** – Intellektualisierung, Rationalisierung, Mathematisierung, Technisierung, Funktionalisierung, Entzauberung. Und so war es ungefähr bis zur Etablierung des Internets.

 

Die Störung der Epoche

Dieses Internet ist nun seit über zwei Jahrzehnten massenwirksam und mentalitätsformend in Betrieb, und unser gegenwärtiges Problem ist mittlerweile von ganz anderem Kaliber als das Webersche. Die dominante Tendenz unseres Zeitalters ist nicht Rationalisierung, sondern Derealisierung. Nicht mehr Entzauberung, sondern Entwirklichung heißt die wesentliche Störung der Epoche.

Entwirklichung wodurch? Durch Fake News? Durch Desinformation? Durch ein Übermaß an Information, das der Mensch mit seiner natürlichen geistig-seelischen Ausstattung nicht mehr verarbeiten kann? So könnte man meinen. Man findet in keinem Bereich der Weltaneignung mehr festen Grund unter den Füßen. Es gibt nirgendwo mehr Sicherheit, nichts Verlässliches, keine Nachricht, kein Wissen, das nicht im nächsten Moment in anderer Beleuchtung und von anderen Autoritäten vorgetragen wieder entwertet werden könnte. Der Mensch ist wieder gezwungen, zu glauben.

Die Zeit vor dem Internet war informationspsychologisch ein fast optimaler Zustand. Man hatte seine Tageszeitung, sein Wochenmagazin, seine Fernsehsendungen, seine Leib-und-Magen-Autoren und -Kommentatoren, man konnte sich ein konsistentes Weltbild errichten, sich in eine geistige Heimat einwohnen.

Das ist vorbei. Die Nachrichten jagen einander heute im Sekundentakt, die Welt ist bis in den letzten Winkel vernetzt, alle sind online dabei, wenn der berühmte Sack Reis umfällt, wenn Trump verliert oder ein Virus mutiert, teilnehmende Beobachtung in Echtzeit, jeder Tag emittiert mehr Wissen, mehr Neuigkeiten, mehr Fakten, als früher in einem ganzen Leben anfielen, sie lassen sich nicht mehr zu einem stimmigen Gesamtbild zusammensetzen, man lebt in einer permanent unklaren, instabilen Situation.

Aber das ist meines Erachtens – abgesehen davon, dass der Befund fragwürdig ist – nicht das Hauptcharakteristikum der Entwirklichung. Das Problem wäre gewiss schon groß genug, wenn die Reizüberflutung in bloßer Informationsüberflutung bestünde. Das wäre dann aber ein simples Komplexitätsproblem. Viele Menschen verstünden dann einfach die Welt nicht mehr – die sie im Übrigen noch nie verstanden haben, ob mit oder ohne Internet –, und es wäre dann Aufgabe fürsorglicher intellektueller Eliten, den Menschen die Welt so zu erklären, dass sie sie mental einigermaßen verarbeiten können, zumindest so weit, dass sie nicht durchdrehen, oder sich in vereinfachenden Aberglauben flüchten.

 

Die kostümierte Elite

Ich glaube, so etwa sehen jene medialen Fürsorger, die sich selbst als Elite begreifen, tatsächlich die Situation. Die Welt sei komplex geworden, die Menschen kämen da nicht mehr mit, sie drohen abgehängt zu werden, wir müssen sie mitnehmen, sie dort abholen, wo sie stehen, damit sie nicht denen in die Hände fallen, die sie mit einfachen Antworten abspeisen, etc. etc.

Dies aber ist gerade nicht das Problem. Es ist vielmehr gerade ein sekundäres Problem, dass die „Eliten“ ein Informationsverarbeitungs-Problem (also letztlich ein Intelligenz- oder Bildungsdefizit) diagnostizieren und sich netterweise darum kümmern, das Problem des zurückgebliebenen Publikums zu lösen, durch Nachhilfe, durch Zuhören, durch Erklären, durch Einordnen, durch Gutzureden, durch Therapie.

Nur: Die Menschen haben gar kein größeres Informationsüberflutungsproblem. Die Welt ist gar nicht wesentlich komplexer geworden. Die Menschen könnten sich mit der „Nachrichten“-Berieselung und den Unmengen an „Wissen“, das täglich neu generiert wird, locker abfinden, so wie sie es immer schon getan haben. Auch 1960 hat niemand richtig verstanden, wie eine Atombombe funktioniert, wie die Photosynthese funktioniert, wie die parlamentarische, repräsentative Demokratie funktioniert, wie eine Volkswirtschaft oder ein Volkswagen oder eine Volkskrankheit funktioniert. Das Volk kann mit Wissensdefiziten traditionell recht gut umgehen.

Das Problem der Gegenwart ist nicht die Informationsüberflutung, sondern die Meinungs- und Moralüberflutung. Nicht die Komplexität der Wirklichkeit macht die Leute wahnsinnig, sondern die interessengeleitete Interpretation der Wirklichkeit. Die Interpretation der Wirklichkeit durch Menschen, die die Macht dazu haben, ihre Sicht der Dinge zu Gehör zu bringen. Die Deutung des Weltgeschehens durch den Relevanzadel, die Klasse derer, die sich gegenseitig bestätigen, dass es auf sie ankommt.

Ein Geständnis nebenbei: Es fällt mir nicht ganz leicht, es explizit auszusprechen bzw. schriftlich niederzulegen, aber im Herzen (oder in dem Organ, das für eskapistische Behaglichkeit zuständig ist) bin ich durchaus eine Art Elitist und Aristokrat. Es bedürfte keiner größeren Bestechungssummen, um mich als Chefideologen für einen verträumten Zwergstaat zu gewinnen, in dem die Besten, die Edelsten, vielleicht sogar die Schönsten die Führung übernähmen und mit erlesenstem Geschmack und penibelstem Gewissen alles aufs Gedeihlichste einrichteten. Die Oberaufsicht müsste natürlich dem König vorbehalten sein (den ich zuvor persönlich mithilfe eines Rates der Welterfahrenen und Wohlgesinnten ausgesucht hätte).

Manchmal glaube ich, jeder lügt, der behauptet, er würde nicht gern unter einem weisen und gutherzigen Monarchen, einem milden und klugen Staatsvater mit Krone und Bart seine Lebenszeit verbringen. Wer wollte sich nicht zuweilen seiner Herrschaftspflicht – denn als Demokraten unterliegen wir diesem dauerhaften und dauernd unbefriedigenden Zwang zum weitgehend machtlosen Mitherrschen – entledigen?

Die Demokratie ist eine verteufelt rationale Angelegenheit. In seinen träumerischen Märchentiefen sehnt sich auch der nüchterne Theoretiker der Volksherrschaft nach gütiger (und wenn möglich gut gemachter) Bevormundung.

Wir sind Wesen mit Vater und Mutter, zu ihnen geht lebenslänglich unsere früheste und tiefste Sehnsucht. Die Demokratie dagegen ist (im Idealfall) eine Sache der Geschwisterlichkeit, aber gerade deren Psychodynamik ist von unkalkulierbarer Komplexität, es gibt da den Gleichrangigkeitsfuror ebenso wie die hingebungsvolle Hilfsbereitschaft, die hypersensibelste Gerechtigkeitswut ebenso wie die Idolisierung der „Großen“, der Überlegenen und Vorausentwickelten. Von mörderischer Todfeindschaft bis zum krassesten Inzest ist unter Geschwistern alles im familiendramatischen Angebot vorhanden.

Jedenfalls, wie die Dinge gegenwärtig und hierzulande liegen, bleibt es erst mal bei der Demokratie. Und das ist okay so. Meine märchenhafte Ideal-Elite existiert halt einfach nicht. Was existiert, ist ein verpöbeltes Bildungsbürgertum, ein heruntergekommener Humanismus, eine Bullshit-Bourgeoisie, die sich als Elite kostümiert hat und deren Mitglieder (wieso muss ich immer an Bellevue-Empfänge und Grünenparteitage, an Kulturzeit-Sendungen, FFF-Demos und Redaktionskonferenzen der ZEIT denken?) sich tagtäglich in dem Wahn bestärken, dass ihnen die Lenkung des Gemeinwesens und die Oberaufsicht über die Projekte der Zukunft obliege.

Und mit dieser real existierenden Realität gilt es vorerst irgendwie zurechtzukommen. Dazu mehr im zweiten Teil.

 

(Fortsetzung folgt)

* Ich muss es den Verschwörungsspezialisten überlassen, zu ermitteln, warum Fernseh-Journalisten, immer so viele „E“s im Namen haben, und ob die Assonanz mit dem Namen „Merkel“ irgendwas zu bedeuten hat.

** Max Weber: Wissenschaft als Beruf. In: Geistige Arbeit als Beruf. Vier Vorträge vor dem Freistudentischen Bund. Erster Vortrag. Duncker & Humblot, München und Leipzig, 1919, S. 15 f.

 

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